»Ja. Auf jeden Fall.«
Sie schlang die Arme um ihn, drückte ihn fest an sich und küßte ihn wieder. Lois hatte offenbar nichts vergessen, was sie beim Küssen gelernt hatte, und Ralph schien es, daß sie eine ganze Menge gelernt hatte. »Los, geh unter die Dusche.« Er wollte sagen, daß er wahrscheinlich einschlafen würde, sobald er den Kopf unter warmes Wasser hielte, aber dann fügte sie etwas hinzu, bei dem er es sich rasch anders überlegte: »Sei mir nicht böse, aber du hast einen komischen Geruch an dir, besonders an den Händen. Mein Bruder Vic hat so gerochen, wenn er den ganzen Tag Fische geputzt hatte.«
Zwei Minuten später stand Ralph unter der Dusche und hatte sich bis zu den Ellbogen eingeseift.
Als er wieder herauskam, lag Lois unter zwei Steppdecken. Nur ihr Gesicht war zu sehen, und auch das nur von der Nase an. Ralph ging hastig durch das Zimmer; er trug nur Unterhosen und war sich schmerzlich seiner spindeldürren Beine und seines Bauchs bewußt. Er schlug die Decke zurück und legte sich hastig hin, wobei er leise keuchte, als die kalten Laken seine warme Haut berührten.
Lois kam sofort auf seine Seite des Betts gerutscht und legte die Arme um ihn. Er vergrub das Gesicht in ihrem Haar und entspannte sich. Es war sehr gut, mit Lois unter der Decke zu liegen, während der Wind draußen heulte und manchmal so stark wütete, daß die Sturmläden in ihren Rahmen klapperten. Ralph kam sich vor wie im Himmel.
»Gott sei Dank, daß ein Mann in meinem Bett liegt«, sagte Lois müde.
»Gott sei Dank, daß ich es bin«, antwortete Ralph, und sie lachte.
»Wie geht es deinen Rippen? Soll ich dir ein Aspirin holen?«
»Nee. Ich bin sicher, morgen früh tun sie wieder weh, aber im Augenblick hat das warme Wasser alles fortgespült.« Die Frage, was am Morgen passieren könnte, oder auch nicht, rief eine Frage in ihm wach - die wahrscheinlich schon die ganze Zeit da gewesen war. »Lois?«
»Mrnmtnrn?«
Vor seinem geistigen Auge sah Ralph, wie er in der Dunkelheit aufwachte, hundemüde, aber nicht mehr schläfrig (sicherlich eines der grausamsten Paradoxe der Welt), während die Digitaluhr träge von 3:47 auf 3:48 Uhr wechselte. F. Scott Fitzgeralds dunkle Nacht der Seele, wenn jede Stunde lange genug war, um die große Cheopspyramide zu bauen.
»Glaubst du, wir werden durchschlafen?« fragte er.
»Ja«, sagte sie, ohne zu zögern. »Ich glaube, wir werden ausgezeichnet schlafen.«
Einen Augenblick später tat Lois genau das.
Ralph blieb noch etwa fünf Minuten wach, hielt sie in den Armen, genoß die wunderbaren verschiedenen Düfte, die von ihrer Haut aufstiegen, erfreute sich am Gefühl der glatten Seide unter seinen Händen und staunte mehr darüber, wo er sich befand, als über die Ereignisse, die ihn hierher geführt hatten. Er war von einem tiefen und einfachen Gefühl erfüllt, das er kannte, aber nicht gleich identifizieren konnte, wahrscheinlich weil es schon zu lange aus seinem Leben verschwunden war.
Der Wind zerrte und stöhnte draußen und erzeugte wieder das hohle, pfeifende Geräusch über der Regenrinne — wie der größte Nirvana-Junge der Welt, der über den größten Flaschenhals der Welt blies -, und Ralph überlegte sich, daß nichts im Leben besser war, als in einem weichen Bett zu liegen und eine schlafende Frau in den Armen zu halten, während draußen, vor dem sicheren Hafen, der Wind heulte.
Aber eines war doch besser, mindestens eines, und das war das Gefühl, wieder einzuschlafen, sanft in die gute Nacht zu dämmern, in die Strömung des Vergessens zu treiben wie ein Kanu, das sich an einem strahlenden Sommertag vom Steg löst und in die Strömung eines breiten, trägen Flusses gerät.
Von allem, was unser kurzfristiges Leben ausmacht, ist Schlaf mit Sicherheit das Beste, dachte Ralph.
Draußen heulte der Wind (dessen Geräusch jetzt aus weiter Ferne zu kommen schien), und als er spürte, wie ihn die Strömung des gewaltigen Flusses ergriff, konnte er endlich das Gefühl identifizieren, das er empfand, seit Lois die Arme um ihn gelegt hatte und so mühelos und vertrauensvoll eingeschlafen war wie ein Kind. Es trug viele verschiedene Namen - Frieden, Gelassenheit, Erfüllung -, aber im Augenblick, während der Wind toste und Lois einen heiseren Laut schläfriger Zufriedenheit weit hinten in der Kehle von sich gab, kam es Ralph so vor, als wäre es eines der seltenen Dinge, die zwar bekannt, aber im Grunde genommen nicht mit einem Namen zu versehen sind: eine Beschaffenheit, eine Aura, möglicherweise eine eigene Ebene des Daseins im Schacht der Existenz. Es war das sanfte Rotbraun der Ruhe; es war die Stille, die nach Erfüllung einer schwierigen, aber notwendigen Aufgabe folgt.
Als der Wind sich wieder aufbäumte und das Geräusch ferner Sirenen mit sich brachte, hörte Ralph es nicht. Er schlief. Einmal träumte er, daß er aufstand und zur Toilette ging, und er vermutete, daß das kein Traum gewesen war. Einmal träumte er, daß er und Lois langsam und sich zärtlich liebten, und das war möglicherweise auch kein Traum gewesen. An andere Träume oder Augenblicke des Wachseins konnte er sich nicht erinnern, und diesmal erwachte er nicht um drei oder vier Uhr morgens. Sie schliefen - manchmal getrennt, aber meistens vereint - bis nach sieben Uhr am Samstagabend; alles in allem rund zweiundzwanzig Stunden.
Lois machte ihnen bei Sonnenuntergang Frühstück köstliche, lockere Waffeln, Speck, Bratkartoffeln. Während sie kochte, versuchte Ralph, diesen Muskel tief in seinem Geist zu spannen - um das Gefühl des Blinzelns zu erzeugen. Es gelang ihm nicht. Auch Lois konnte es nicht, als sie es versuchte, obwohl Ralph hätte schwören können, daß sie einen Augenblick flackerte und er den Herd hinter ihr durch sie hindurch sehen konnte.
»Und wenn schon«, sagte sie und trug die Teller zum Tisch.
»Ich denke auch«, stimmte Ralph zu, aber er fühlte sich trotzdem, wie er sich fühlen würde, wenn er den Ring verloren hätte, den Carolyn ihm an den Finger gesteckt hatte, und nicht den, den er Atropos abgenommen hatte - als wäre ein kleiner, aber bedeutender Gegenstand mit einem Blinzeln und einem Schimmern aus seinem Leben verschwunden.
Nach zwei weiteren Nächten tiefen, ununterbrochenen Schlafs verblaßten auch die Auren. In der darauffolgenden Woche waren sie ganz verschwunden, und Ralph fragte sich, ob die ganze Sache nicht vielleicht ein seltsamer Traum gewesen sei. Er wußte, daß es nicht so war, aber es fiel ihm immer schwerer zu glauben, was er wußte. Da war natürlich die Narbe zwischen Ellbogen und Handgelenk seines rechten Arms, aber er fragte sich, ob er sich auch die nicht vor langer Zeit zugezogen hatte, in den Jahren seines Lebens, als er kein weißes Haar gehabt und tief in seinem Herzen noch geglaubt hatte, daß das Alter ein Mythos sei, oder ein Traum, oder etwas, das Menschen vorbehalten blieb, die nicht so etwas Besonderes waren wie er.
EPILOG
Die Todesuhr wird aufgezogen (II)
Ich schaue über die Schulter und erblicke seine Gestalt und gehe vorwärts, wie jemand, der im Wald bei Nacht das Geräusch von Schritten hört, die näherkommen, und stehenbleibt und lauscht; und statt Stille hört er ein Geschöpf, das still zu sein versucht.
Was kann er tun als laufen? Blindlings den Weg entlang, stolpernd, von Zweigen ins Gesicht geschlagen; der andere immer näher, doch nicht in Eile oder atemlos; er spielt mit seiner Beute.
Stephen Dobyns Pursuit
If I had some wings, I’d fly you all around;
If I had some money, I’d buy you the goddam town;
If I had the strength, then maybe I coulda pulled you through;
If I had a lantern, I’d light the way for you,
If I had a lantern, I’d light the way for you.
Michael McDermott Lantern
Am 2. Januar 1994 wurde Lois Chasse zu Lois Roberts. Howard, ihr Sohn, war Brautführer. Howards Frau nahm nicht an der Feier teil; sie blieb mit einem nach Ralphs Ansicht höchst fragwürdigen Fall von Bronchitis in Bangor. Aber er behielt seinen Verdacht für sich und war alles andere als enttäuscht darüber, daß Jan Chasse verhindert war. Der Trauzeuge des Ehemanns war Detective John Leydecker, der immer noch einen Gips am rechten Arm trug, sonst aber keine Spuren des Einsatzes mehr zeigte, der ihn beinahe das Leben gekostet hatte. Er hatte vier Tage im Koma gelegen, aber Leydecker wußte, daß er großes Glück gehabt hatte; außer dem Bundespolizisten, der zum Zeitpunkt der Explosion neben ihm gestanden hatte, waren sechs weiter Polizisten gestorben, darunter zwei Mitglieder von Leydeckers handverlesenem Team.