Das Leben nahm seinen Lauf wie üblich - was bedeutet, weitgehend zwischen den Zeilen und außerhalb der Ränder. Dem einen oder anderen Weisen zufolge ist es das, was passiert, während wir andere Pläne machen, und wenn das Leben in jenen Jahren besonders gut zu Ralph Roberts war, dann vielleicht deshalb, weil er keine anderen Pläne hatte. Er blieb mit Joe Wyzer und John Leydecker befreundet, aber sein bester Freund in all den Jahren war seine Frau. Sie gingen fast überall gemeinsam hin, hatten keine Geheimnisse voreinander und stritten selten, so gut wie nie, könnte man sagen. Außerdem hatte er den Beagle Rosalie, den Schaukelstuhl, der Mr. Chasse gehört hatte, jetzt aber seiner war, und fast täglich Besuche von Natalie (die sie jetzt Ralph und Lois statt Walf und Roliss nannte, eine Veränderung, die beide nicht als Verbesserung ansahen). Und er war gesund, was möglicherweise das Allerbeste war. Es war einfach das Leben, voll kurzfristiger Belohnungen und Rückschläge, und Ralph genoß es voll Freude und Ausgeglichenheit bis Mitte März 1998, als er eines Morgens aufwachte, auf die Digitaluhr neben dem Bett sah und feststellte, daß es 5:49 Uhr war.
Er lag still neben Lois, weil er sie nicht stören wollte, indem er aufstand, und fragte sich, was ihn geweckt hatte.
Das weißt du doch, Ralph.
Nein.
Doch, du weißt es. Hör gut hin.
Also hörte er gut hin. Er hörte ganz genau hin. Und nach einer Weile konnte er es in den Wänden hören: das leise, sanfte Ticken der Todesuhr.
Ralph erwachte am folgenden Morgen um 547 und am Morgen darauf um 5:44 Uhr. Sein Schlaf schwand Minute für Minute, während der Winter Derry langsam aus seinem Griff entließ und dem Frühling Platz machte. Im Mai hörte er das Ticken der Todesuhr überall, wußte aber, es kam nur von einem einzigen Punkt und projizierte sich, wie ein guter Bauchredner seine Stimme projizieren kann. Beim erstenmal war es aus Carolyn gekommen. Jetzt kam es aus ihm.
Er verspürte weder die Angst wie bei dem Gedanken, er könnte Krebs haben, noch die Verzweiflung, an die er sich von seiner früheren Phase der Schlaflosigkeit erinnerte. Er wurde schneller müde, und es fiel ihm schwerer, sich zu konzentrieren und sich auch nur an einfache Dinge zu erinnern, aber er fügte sich gelassen in das, was geschah.
»Schläfst du gut, Ralph?« fragte Lois ihn eines Tages. »Du bekommst große dunkle Ringe unter den Augen.«
»Das liegt an den Drogen, die ich nehme«, sagte Ralph.
»Sehr witzig, du alter Narr.«
Er nahm sie in die Arme und drückte sie. »Mach dir um mich keine Sorgen, Liebling - ich bekomme soviel Schlaf, wie ich brauche.«
Eine Woche später erwachte er morgens um 4:02 Uhr und spürte einen pochenden Strang starker Hitze in seinem Arm -sie pochte in perfektem Einklang mit dem Ticken der Todesuhr, die selbstverständlich nichts anderes als sein eigener Herzschlag war. Aber dieses neue Ding war nicht sein Herz, jedenfalls glaubte Ralph das nicht; es war, als wäre ein Stromkabel ins Fleisch seines Unterarms eingepflanzt worden.
Das ist die Narbe, dachte er, und dann: Nein, es ist das Versprechen. Die Zeit des Versprechens ist fast gekommen.
Welches Versprechen, Ralph? Welches Versprechen?
Er wußte es nicht.
Eines Tages Anfang Juni kamen Helen und Nat zu Besuch und erzählten Ralph und Lois von einem Ausflug nach Boston mit »Tante Melanie«, einer Bankangestellten, mit der Helen eng befreundet war. Helen und Tante Melanie waren zu einer feministischen Versammlung gegangen, während Natalie im Tageszentrum mit etwa einer Milliarde neuer Kinder Freundschaft schloß, und dann war Tante Melanie zu weiteren feministischen Aktivitäten nach New York und Washington weitergereist. Helen und Nat waren ein paar Tage in Boston geblieben, um die Sehenswürdigkeiten zu bewundern.
»Wir haben einen Zeichentrickfilm gesehen«, sagte Natalie. »Er handelte von Tieren im Wald. Sie haben gesprochen!« Das letzte Wort sprach sie mit Shakespearscher Grandeur ausgesprochen.
»Filme mit sprechenden Tieren sind toll, was?« fragte Lois.
»Ja! Außerdem habe ich dieses neue Kleid bekommen.« »Und was für ein hübsches Kleid«, sagte Lois.
Helen sah Ralph an. »Alles in Ordnung, alter Freund? Du siehst blaß aus und hast noch keinen Pieps gesagt.«
»Hab mich nie besser gefühlt«, sagte er. »Ich habe mir nur gerade überlegt, wie süß ihr beiden mit diesen Mützen ausseht. Habt ihr sie im Fenway Park gekauft?«
Helen und Nat trugen beide Mützen der Red Sox von Boston. Bei warmem Wetter waren diese in Neuengland weit verbreitet (»verbreitet wie Katzendreck«, hätte Lois gesagt), aber auf den Köpfen dieser beiden Menschen riefen sie ein tiefes Echo in Ralph wach… und das war mit einem bestimmten Bild verbunden, das er nicht im geringsten verstand: der Fassade des Red Apple.
Inzwischen hatte Helen ihre Mütze abgenommen und betrachtete sie. »Ja«, sagte sie, »wir waren da, sind aber nur drei Runden geblieben. Männer schlagen Bälle und fangen Bälle. Ich glaube, ich habe neuerdings nicht mehr viel Geduld mit Männern und ihren Bällen… aber unsere hübschen Red-SoxMützen gefallen uns, oder nicht, Natalie?«
»Ja!« stimmte Nat vergnügt zu, und als Ralph am nächsten Morgen um 4:01 Uhr erwachte, pochte die dünne Linie an seinem Unterarm heftig und die Todesuhr schien fast eine eigene Stimme bekommen zu haben, die immer wieder einen seltsamen und fremdartigen Namen flüsterte: Atropos… Atropos… Atropos.
Ich kenne diesen Namen.
Wirklich, Ralph?
Ja, er war der mit dem rostigen Skalpell und der gemeinen Art, er hat mich Kurzer genannt, er nahm… nahm…
Nahm was, Ralph?
Er gewöhnte sich an diese stummen Unterhaltungen; sie schienen auf einer geistigen Wellenlänge zu ihm zu kommen, einer Piratenfrequenz, die nur in den frühen Morgenstunden auf Sendung war, wenn er neben seiner schlafenden Frau lag und darauf wartete, daß die Sonne aufging.
Nahm was? Erinnerst du dich?
Er rechnete nicht damit; die Fragen, die ihm diese Stimme stellte, blieben fast immer unbeantwortet, aber diesmal erhielt er eine Antwort, mit der er nicht gerechnet hatte.
Selbstverständlich Bill McGoverns Hut. Atropos hat Bills Hut genommen, und einmal hob ich ihn so wütend gemacht, daß er wahrhaftig ein Stück aus der Krempe rausgebissen hat.
Wer ist er? Wer ist Atropos?
Da war er nicht so sicher. Er wußte nur, Atropos hatte etwas mit Helen zu tun, die jetzt eine Mütze der Boston Red Sox zu besitzen schien, auf die sie ausgesprochen stolz war, und er besaß ein rostiges Skalpell.
Bald, dachte Ralph Roberts, während er in der Dunkelheit lag und dem leisen, konstanten Ticken der Todesuhr in den Wänden lauschte. Bald werde ich es wissen.
In der dritten Woche des brütend heißen Juni sah Ralph die Auren wieder.
Als der Juni in den Juli überging, brach Ralph häufig in Tränen aus, meistens ohne ersichtlichen Grund. Das war seltsam; er fühlte sich weder deprimiert noch unzufrieden, aber manchmal sah er etwas - möglicherweise nur einen Vogel, der einsam seine Kreise am Himmel zog -, und sein Herz wurde schwer vor Kummer und Verlustgefühlen.
Es ist fast vorbei, sagte seine innere Stimme. Sie gehörte nicht mehr Carolyn oder Bill oder seinem jüngeren Selbst; sie war jetzt völlig eigenständig, die Stimme eines Fremden, allerdings nicht unbedingt eines unfreundlichen. Darum bist du so traurig, Ralph. Es ist völlig normal, traurig zu sein, wenn die Uhr abläuft.