Nichts ist fast vorbei! schrie er zurück. Warum sollte es? Bei meiner letzten Untersuchung hat Dr. Pickard gesagt, ich wäre kerngesund! Mir geht es gut! Ich habe mich nie besser gefühlt!
Die innere Stimme schwieg. Aber es war ein wissendes Schweigen.
»Okay«, sagte Ralph eines Nachmittags Ende Juli laut. Er saß auf einer Bank nicht weit von der Stelle entfernt, wo bis 1985 der Wasserturm von Derry gestanden hatte, als der große Sturm ihn umwarf. Am Fuß des Hügels, in der Nähe des Vogelbads, machte sich ein junger Mann (ein gewissenhafter Vogelbeobachter, dem Fernglas, das er um den Hals trug, und dem Stapel Taschenbücher neben sich im Gras nach zu urteilen, gewissenhaft Notizen in eine Art Tagebuch. »Okay, sag mir, warum es fast vorbei ist. Sag mir nur das.«
Es erfolgte keine unmittelbare Antwort, aber das machte nichts; Ralph war bereit zu warten. Der Spaziergang hierher war anstrengend gewesen, der Tag war heiß, und Ralph war müde. Er wachte jetzt jeden Morgen gegen 3:30 Uhr auf. Er machte wieder lange Spaziergänge, aber nicht in der Hoffnung, sie würden ihm helfen, besser oder länger zu schlafen; er glaubte, daß er Pilgerfahrten unternahm, daß er seine ganzen Lieblingsplätze in Derry ein letztes Mal besuchte. Daß er Lebewohl sagte.
Weil die Zeit des Versprechens fast gekommen ist, antwortete die Stimme, und die Narbe pochte wieder mit ihrer starken, konzentrierten Hitze. Das dir gegeben wurde, und das du als Gegenleistung gegeben hast.
»Was war das?« fragte er aufgeregt. »Bitte, wenn ich ein Versprechen gegeben habe, warum kann ich mich daran nicht erinnern?«
Das hörte der gewissenhafte Vogelbeobachter und sah den Hügel hinauf. Er sah einen Mann auf einer Parkbank sitzen und anscheinend Selbstgespräche führen. Der gewissenhafte Vogelbeobachter zog verächtlich die Mundwinkel nach unten und dachte: Ich hoffe, ich sterbe, bevor ich so alt werde. Wirklich. Dann drehte er sich wieder zu dem Vogelbad um und setzte seine Notizen fort.
Plötzlich kam tief im Inneren von Ralphs Kopf dieses verkrampfte Gefühl wieder - das Blinzeln -, und obwohl er sich nicht von der Bank fortbewegte, spürte er doch, wie er rapide in die Höhe getragen wurde… schneller und höher als jemals zuvor.
Ganz und gar nicht, sagte die Stimme. Einmal warst du viel höher als jetzt, Ralph - und Lois. Aber du kommst wieder hin. Bald wirst du bereit sein.
Der Vogelbeobachter, der, ohne es zu wissen, inmitten einer prachtvollen Aura aus gesponnenem Gold lebte, sah sich verstohlen um - möglicherweise wollte er sicherstellen, daß sich der senile alte Mann auf der Bank da oben auf dem Hügel nicht mit einem stumpfen Gegenstand an ihn heranschlich. Aber bei dem Anblick, der sich ihm bot, entspannte sich die verkrampfte, verbissene Linie seines Mundes. Er riß die Augen auf. Ralph erblickte plötzlich kreisende, indigoblaue Speichen in der Aura des gewissenhaften Vogelbeobachters und wußte, daß er einen Mann vor sich sah, der gerade einen Schock erlitten hatte.
Was ist los mit ihm? Was sieht er?
Aber das stimmte nicht. Es ging nicht darum, was der Vogelbeobachter sah, sondern was er nicht sah. Er sah Ralph nicht, denn Ralph war so weit aufgestiegen, daß er aus dieser Ebene verschwunden war - er war zum visuellen Gegenstück des Tons einer Hundepfeife geworden.
Wenn sie jetzt hier wären, könnte ich sie mühelos sehen.
Wer, Ralph? Wenn wer hier wäre?
Klotho. Lachesis. Und Atropos.
Plötzlich fügten sich die Teile wie im Flug in seinem Geist zusammen, wie die Stücke eines Puzzles, das viel komplizierter aussah, als es in Wirklichkeit war.
Ralph, flüsternd: [»O mein Gott. O mein Gott. O mein Gott.«]
Sechs Tage später erwachte Ralph um Viertel nach drei Uhr morgens und wußte, daß der Zeitpunkt des Versprechens gekommen war.
»Ich glaube, ich gehe zum Red Apple, mir ein Eis holen«, sagte Ralph. Es war fast zehn Uhr. Sein Herz schlug viel zu schnell, und seine Gedanken waren unter dem konstanten weißen Rauschen der Todesangst, die er jetzt verspürte, kaum zu finden. Ihm war in seinem ganzen Leben noch nie weniger nach Eis zumute gewesen, aber es war eine einleuchtende Ausrede für einen Spaziergang zum Red Apple; man schrieb die erste Augustwoche, der Wetterbericht hatte gesagt, daß die Quecksilbersäule am frühen Nachmittag wahrscheinlich über zweiunddreißig steigen und am frühen Abend Gewitter auf ziehen würden.
Ralph glaubte, daß er sich wegen des Gewitters keine Sorgen mehr zu machen brauchte.
Neben der Küchentür stand ein Bücherregal auf Zeitungen. Lois hatte es rot gestrichen. Jetzt stand sie auf, stemmte die Hände unten in den Rücken und streckte sich. Ralph konnte das leise Knacken der Wirbelsäule hören. »Ich komme mit dir. Wenn ich nicht eine Weile von der Farbe wegkomme, werde ich heute nacht Kopfschmerzen haben. Ich weiß sowieso nicht, warum ich an so einem schwülen Tag etwas anstreichen wollte.«
Ralph hatte als Allerletztes vor, sich von Lois zum Red Apple begleiten zu lassen. »Das mußt du nicht, Liebling; ich bringe dir ein Kokoseis am Stiel mit, das du so magst. Ich wollte nicht mal Rosalie mitnehmen, weil es so schwül ist. Warum setzt du dich nicht hinten auf die Veranda?«
»Wenn du an so einem Tag ein Eis am Stiel bis hierher trägst, fällt es wahrscheinlich vom Stiel, bis du hier bist«, sagte sie. »Komm schon, gehen wir, solange noch Schatten auf dieser Seite der…«
Sie verstummte langsam. Das verhaltene Lächeln verschwand von ihrem Gesicht. Es wich einem bestürzten Ausdruck, und das Grau ihrer Aura, das in den Jahren, als Ralph es nicht sehen konnte, nur ein bißchen dunkler geworden war, erstrahlte nun mit Scharen rötlich-rosafarbener Fünkchen.
»Ralph, was ist los? Was hast du wirklich vor?«
»Nichts«, sagte er, aber die Narbe in seinem Arm glühte, und das Ticken der Todesuhr war überall, laut und allgegenwärtig. Es sagte ihm, daß er eine Verabredung einhalten mußte. Ein Versprechen.
»O doch, und es geht schon seit zwei oder drei Monaten so, vielleicht länger. Ich bin eine dumme Frau - ich hab gewußt, daß etwas in der Luft lag, hab es aber nicht fertiggebracht, mich ihm direkt zu stellen. Weil ich Angst hatte. Und ich hatte recht, Angst zu haben, oder nicht? Ich hatte recht.«
»Lois —«
Plötzlich kam sie durch das Zimmer auf ihn zu, kam schnell, sprang fast, die alte Rückenverletzung hinderte sie nicht im geringsten, und bevor er sie aufhalten konnte, hatte sie seinen rechten Arm gepackt, streckte ihn und betrachtete ihn gebannt.
Die Narbe leuchtete in einem heftigen, strahlenden Rot.
Ralph hoffte kurz, daß es nur ein Leuchten der Aura war, das sie nicht sehen konnte. Dann sah sie mit runden Augen voller Angst auf. Angst und noch etwas. Ralph fand, daß dieses Andere Wiedererkennen war.
»O mein Gott«, flüsterte sie. »Die Männer im Park. Die mit den komischen Namen… Klothes und Lashes oder so… und einer hat dich geschnitten. O Ralph, o mein Gott, was sollen wir tun?«
»Lois, jetzt reg dich nicht auf -«
»Komm mir nicht mit. Reg dich nicht auf!« kreischte sie ihm ins Gesicht. »Wage es nicht! Wage es JA nicht!«
Beeil dich, flüsterte die innere Stimme. Du hast keine Zeit, hier herumzustehen und dich darüber zu unterhalten; irgendwo hat es schon angefangen, und die Todesuhr, die du hörst, tickt möglicherweise nicht nur für dich.
»Ich muß gehen.« Er drehte sich um und stapfte zur Tür. In seiner Aufregung bemerkte er eine gewisse Sherlock Holmessche Einzelheit dieser Szene nicht: Ein Hund, der hätte bellen müssen - ein Hund, der immer mißbilligend bellte, wenn in diesem Haus Stimmen erhoben wurden -, bellte nicht. Rosalie lag nicht an ihrem Lieblingsplatz neben der Tür… und die Tür selbst war angelehnt.
Aber im Augenblick lag Ralph nichts ferner als Rosalie. Er kam sich vor, als stünde er knietief in Melasse und glaubte, es wäre eine reife Leistung, wenn er nur bis zur Veranda käme, geschweige denn die Straße hinauf zum Red Apple. Sein Herz pochte und raste in der Brust; seine Augen brannten.
»Nein!« schrie Lois. »Nein, Ralph, bitte! Bitte verlaß mich nicht!«