Esther Perrine fixierte den respektvoll schweigenden jungen Reporter mit einem formidablen Blick - wie ein Insektenforscher einen Schmetterling auf der Nadel, nachdem er ihn chloroformiert hat.
»Ich meine nicht, daß es ausgesehen hat, als käme er aus dem Nichts, junger Mann, auch wenn ich wette, daß Sie das drucken werden.«
Sie beugt sich zu dem Reporter, ohne den Blick von seinem Gesicht abzuwenden, und sagt es noch einmal.
»Er kam aus dem Nichts, um das kleine Mädchen zu retten. Können Sie mir folgen, junger Mann? Er kam aus dem Nichts.«
Der Unfall war die Schlagzeile der Derry News des nächsten Tages. Esther Perrines Bemerkungen waren so farbenprächtig gewesen, daß sie einen eigenen Kasten am Rand bekam, und der Fotograf Tom Matthews machte eine Aufnahme von ihr, auf der sie aussah wie Ma Joad aus Die Früchte des Zorns. Die Schlagzeile über dem Kasten lautete: »ES WAR, ALS WÄRE ER AUS DEM NICHTS GEKOMMEN«, BEHAUPTET AUGENZEUGIN.
Als Mrs. Perrine es las, war sie nicht im geringsten überrascht.
»Letzten Endes bekam ich, was ich wollte«, sagte Ralph, »aber nur weil Klotho und Lachesis - und derjenige auf der höheren Etage, für den sie arbeiten - Ed um jeden Preis aufhalten wollten.«
»Höheren Etage? Was für einer höheren Etage? In was für einem Gebäude?«
»Unwichtig. Du hast es vergessen, aber es würde auch nichts ändern, wenn du dich erinnern würdest. Wichtig ist nur folgendes, Lois: Sie wollten Ed nicht aufhalten, weil tausende Menschen gestorben wären, wenn er direkt ins Bürgerzentrum hineingerast wäre. Sie wollten ihn aufhalten, weil das Leben eines Menschen unter allen Umständen verschont werden mußte… ihrer Meinung nach jedenfalls. Als sie schließlich einsahen, daß ich über mein Kind genauso dachte wie sie über ihres, wurden Vereinbarungen getroffen.«
»Da haben sie dich geschnitten, richtig? Und dann hast du dein Versprechen gegeben. Von dem du im Schlaf gesprochen hast.«
Er warf ihr mit großen Augen einen verblüfften und herzzerreißend jungenhaften Blick zu. Sie erwiderte den Blick nur.
»Ja«, sagte er und wischte sich die Stirn ab. »Das nehme ich an.« Auf der Harris Avenue herrschte heute dichter Verkehr, und die Luft lag wie Metallsplitter in Ralphs Lungen. »Ein Leben für ein Leben, das war die Abmachung - Natalies im Tausch gegen meines. Und -«
[Hey! Hör auf, dich davonschleichen zu wollen! Hör auf, Rover, oder ich trete dir dein Arschloch eckig!]
Ralph verstummte, als er diese schrille, herrische, seltsam vertraute Stimme hörte - eine Stimme, die kein Mensch auf der Harris Avenue hören konnte, außer ihm -, und sah über die Straße.
»Ralph? Was -«
»Pssst!«
Er zog sie zu der sommerlich vertrockneten Hecke vor dem Haus der Applebaums zurück. Inzwischen transpirierte er nicht mehr nur; sein ganzer Körper stank nach einem übelriechenden Schweiß, so dick wie Motoröl, und er konnte spüren, wie jede Drüse in seinem Körper ihre heiße Ladung in seine Blutbahnen pumpte. Seine Unterwäsche wollte ihm in die Arschfalte kriechen und verschwinden. Seine Zunge schmeckte wie eine verbrannte Zündschnur.
Lois folgte seinem Blick. »Rosalie!« rief sie. »Rosalie, du böser Hund! Was machst du denn hier?«
Der schwarzbraune Beagle, den sie Ralph an ihrem ersten gemeinsamen Weihnachtsfest geschenkt hatte, befand sich auf der anderen Straßenseite und stand (kauerte wäre das bessere Wort gewesen) auf dem Bürgersteig vor dem Haus, wo Helen und Nat gewohnt hatten, bevor Ed übergeschnappt war. Zum erstenmal in den Jahren, seit sie die Hündin hatten, erinnerte sie Lois an Rosalie Nr. 1, den hinkenden Streuner, der an dem Abend, nachdem Ralph eine verzweifelte Lois Chasse auf der Parkbank gefunden hatte, wo sie sich die Seele aus dem Leib weinte, auf der Straße überfahren worden war. Rosalie Nr. 2 schien ganz allein da drüben zu sein, aber das konnte Lois’ plötzliches Entsetzen nicht vertreiben.
Oh, was habe ich getan? dachte sie. Was habe ich getan?
»Rosalie!« schrie sie. »Rosalie, komm hier rüber!«
Die Hündin hörte sie, das konnte Lois sehen, aber sie bewegte sich nicht.
»Ralph? Was ist da drüben los?«
»Psssst!« sagte er wieder, und dann sah Lois etwas weiter oben an der Straße etwas, bei dem ihr der Atem stockte. Ihre letzte schwache Hoffnung, daß sich Ralph das alles nur einbildete, daß es eine Art Rückbesinnung auf ihre früheren Erlebnisse sein könnte, verschwand mit einem Mal, denn jetzt hatte ihr Hund Gesellschaft.
Die sechs Jahre alte Nat Deepneau kam mit einem Springseil über dem rechten Arm zum Ende ihrer Einfahrt herunter und sah die Straße hinunter zu dem Haus, in dem sie einmal gewohnt hatte, woran sie sich allerdings nicht erinnerte, zu dem Rasen, wo ihr Vater einmal ohne Hemd zwischen sich überschneidenden Regenbogen gesessen und Jefferson Airplane gehört hatte, während ein einziger Blutstropfen auf seiner John-Lennon-Brille trocknete. Natalie sah die Straße hinunter und lächelte glücklich, als sie Rosalie sah, die hechelte und sie mit kläglichen, ängstlichen Augen beobachtete.
Atropos sieht mich nicht, dachte Ralph. Er konzentriert sich auf Rosie… und natürlich auf Natalie… und er sieht mich nicht.
Alles fügte sich mit einer tückischen Perfektion zusammen. Das Haus war da, Rosalie war da, und Atropos war auch da, er hatte einen Hut auf dem Kopf zurückgeschoben und sah aus wie ein sprücheklopfender Reporter in einem B-Film aus den fünfziger Jahren - möglicherweise einem, bei dem Ida Lupino Regie geführt hatte. Aber diesmal war es kein Panama mit angebissener Krempe; diesmal war es eine Mütze der Boston Red Sox, und die war selbst für Atropos zu klein, weil das justierbare Band an der Rückseite bis ins letzte Loch gezogen worden war. Damit sie dem kleinen Mädchen paßte, dem sie gehörte.
Jetzt brauchen wir nur noch Pat, den Zeitungsjungen, und die Show ist perfekt, dachte Ralph. Die letzte Szene von Schlaflos, oder Das Leben der Kurzfristigen in der Harris Avenue, eine Tragikomödie in drei Akten. Alle verbeugen sich und treten nach rechts von der Bühne ab.
Dieser Hund hatte Angst vor Atropos, genau wie Rosalie Nr. 1, und der Hauptgrund, weshalb der kleine kahlköpfige Doc Ralph und Lois nicht gesehen hatte, war der, daß er versuchte, sie am Weglaufen zu hindern, bevor er bereit war. Und da kam Nat den Bürgersteig entlang zu ihrem liebsten Hund auf der ganzen Welt, Ralphs und Lois’ Rosie. Ihr Springseil (drei-sechs-neun die Gans trank Wein) hatte sie über den Arm geschlungen. Sie sah unglaublich schön und unglaublich verwundbar aus in ihrer Matrosenbluse und den blauen Shorts. Ihre Zöpfe wippten.
Es passiert zu schnell, dachte Ralph. Alles passiert viel zu schnell.
[Ganz und gar nicht, Ralph! Vor fünf Jahren haben Sie es prima gemacht; Sie werden es jetzt auch prima machen. Gott liebt Sie… und jetzt halten Sie Ihr Versprechen.]
Das hörte sich nach Klotho an, aber er hatte keine Zeit, sich zu vergewissern. Ein grünes Auto fuhr langsam aus der Richtung des Flughafens die Harris Avenue entlang; es fuhr mit der quälenden Vorsicht, die normalerweise darauf schließen ließ, daß entweder ein sehr alter oder ein sehr junger Mensch am Steuer saß. Quälende Vorsicht hin oder her, es war zweifellos das Auto; eine schmutzige Membran hing wie ein Leichentuch darüber.
Das Leben ist ein Rad, dachte Ralph, und er überlegte sich, daß ihm dieser Gedanke nicht zum erstenmal kam. Früher oder später kommt alles, das man hinter sich gelassen zu haben glaubt, wieder zum Vorschein. Ob gut oder schlecht, es kommt wieder zum Vorschein.
Rosie unternahm einen weiteren vergeblichen Versuch, die Freiheit zu erlangen, und als Atropos sie zurückriß, kniete Nat sich vor sie hin und streichelte sie. »Hast du dich verirrt, Mädchen? Bist du alleine rausgekommen? Das macht nichts, ich bring dich nach Hause.« Sie umarmte Rosie, ihre kleinen Ärmchen gingen durch die Arme von Atropos, ihr kleines, hübsches Gesicht war nur Zentimeter von seinem häßlichen, grinsenden entfernt. Dann stand sie auf. »Komm mit, Rosie. Komm mit, Hündchen.«
Als Nat losging, blieb Rosalie ihr unmittelbar auf den Fersen, drehte sich noch einmal zu dem grinsenden Mann um und winselte nervös. Auf der anderen Seite der Harris Avenue kam Helen aus dem Red Apple, und damit war die letzte Bedingung der Vision, de Atropos Ralph gezeigt hatte, erfüllt. Helen hielt einen Laib Brot in der Hand. Die Red-Sox-Mütze hatte sie auf dem Kopf.