»One pull makes you larger,
One pill makes you small,
And the ones that Mother gives you Don’t do anything at all,
Go ask Alice, when she’s ten feet tall.«
Die Musik kam aus einem Gettoblaster auf der briefmarkengroßen Veranda des Cape Cod. Auf dem Rasen drehte sich ein Sprinkler, der ein Hischa-hischa-hischa von sich gab, während er Regenbogen in die Luft warf und einen schimmernden feuchten Fleck auf dem Rasen hinterließ. Ed Deepneau saß mit bloßem Oberkörper in einem Liegestuhl, hatte die Beine übereinandergeschlagen und sah mit dem nachdenklichen Ausdruck eines Mannes zum Himmel, der zu entscheiden versucht, ob eine Wolke, die vorüberzieht, mehr wie ein Pferd oder wie ein Einhorn aussieht. Ein Fuß wippte im Takt der Musik auf und ab. Das Buch, das aufgeschlagen und verkehrt herum auf seinem Schoß lag, paßte perfekt zu der Musik: Sogar Cowgirls kriegen mal Blues von Tom Robbins.
Eine fast perfekte Sommervignette; eine Szene kleinstädtischen Friedens, die Norman Rockwell gemalt und mit dem Titel »Freier Tag« versehen haben könnte. Man mußte nur über das Blut auf Eds Knöcheln und den Spritzer auf dem linken Glas seiner John Lennon-Brille hinwegsehen.
»Ralph, um Gottes willen, laß dich nicht auf einen Kampf mit ihm ein!« zischte McGovern, als Ralph den Bürgersteig verließ und über den Rasen ging. Er schritt durch die feine, kalte Gischt des Rasensprengers und bemerkte sie fast nicht.
Ed drehte sich um und ließ ein sonniges Grinsen sehen. »He, Ralph!« sagte er. »Schön, dich zu sehen, Mann!«
Vor seinem geistigen Auge sah Ralph, wie er den Arm ausstreckte, Eds Stuhl umschubste und Ed auf den Rasen stieß. Er sah, wie Ed hinter der Brille die Augen erschrocken und überrascht aufriß. Die Vision war so real, daß er sogar sah, wie sich die Sonne auf dem Ziffernblatt von Eds Uhr spiegelte, als er versuchte, sich aufzurichten.
»Hol dir ein Bier und zieh dir einen Stuhl her«, sagte Ed. »Wenn dir nach einer Partie Schach zumute ist…«
»Bier? Eine Partie Schach? Herrgott, Ed, was stimmt denn nicht mit dir?«
Ed antwortete nicht gleich, sondern sah Ralph nur mit einem Ausdruck an, der furchteinflößend und nervtötend zugleich war. Es war eine Mischung aus Heiterkeit und Scham, der Ausdruck eines Mannes, der sich anschickt zu sagen: Oh, Scheiße, Liebling, hob ich schon wieder vergessen, den Müll rauszustellen?
Ralph deutete an McGovern vorbei den Hügel hinunter McGovern stand bei dem nassen Fleck, den der Rasensprenger auf dem Bürgersteig hinterlassen hatte, und hätte sich versteckt, hätte es etwas gegeben, wohinter er sich hätte verkriechen können, und beobachtete sie nervös. Zu dem ersten Polizeiauto hatte sich ein zweites gesellt, und Ralph konnte leise das Knistern von Funkverkehr hören durch die offenen Fenster hören. Die Menschenmenge war beachtlich angewachsen.
»Die Polizei ist wegen Helen hier!« sagte er und ermahnte sich, nicht zu schreien, es würde nichts nützen, zu schreien, schrie aber trotzdem. »Sie sind hier, weil du deine Frau verprügelt hast, kapierst du das?«
»Oh«, sagte Ed und rieb sich reumütig die Wangen. »Deswegen.«
»Ja, deswegen«, sagte Ralph. Er war jetzt fast besinnungslos vor Wut.
Ed sah an ihm vorbei zu den Polizeiautos, zu der Menschenmenge, die vor dem Red Apple stand… und dann sah er McGovern.
»Bill!« rief er. McGovern zuckte zusammen. Ed bemerkte es entweder nicht oder wollte es nicht bemerken. »He, Mann! Zieh dir einen Stuhl ran! Willst du ein Bier?«
Da wußte Ralph, daß er Ed schlagen, seine alberne runde Brille zerbrechen, ihm möglicherweise einen Glassplitter ins Auge treiben würde. Er würde es tun, nichts auf der Welt konnte ihn davon abhalten, aber im letzten Augenblick hielt ihn doch etwas ab. Carolyns Stimme hörte er heutzutage immer häufiger in seinem Kopf - das heißt, wenn er nicht einfach vor sich hinmurmelte -, aber es war nicht Carolyns Stimme; diese Stimme gehörte, so unwahrscheinlich es sich anhörte, Trigger Vachon, den er nur ein-oder zweimal gesehen hatte, seit dieser ihn vor dem Gewitter rettete, als Carolyn ihren ersten Anfall gehabt hatte.
Jawoll, Ralph! Sei verdammt vorsischtisch! Der ist völlisch von der Rolle! Vielleischt will er, daß du ihn ‘aust!
Ja, entschied er. Vielleicht wollte Ed genau das. Warum?
Wer weiß. Vielleicht, um das Wasser etwas zu trüben, vielleicht auch nur, weil er verrückt war.
»Hör auf mit dem Scheiß«, sagte er mit fast zu einem Flüstern gesenkter Stimme. Er stellte dankbar fest, daß ihm sofort wieder Eds ungeteilte Aufmerksamkeit galt, und es freute ihn noch mehr, daß Eds angenehm vager Ausdruck verschämter Heiterkeit verschwand. Er wurde von einer verkniffenen, argwöhnischen Miene ersetzt. Es war, fand Ralph, der Ausdruck eines gefährlichen, gereizten Tieres.
Ralph bückte sich, damit er Ed direkt ansehen konnte. »War es wegen Susan Day?« fragte er mit derselben leisen Stimme. »Susan Day und dieser Abtreibungsgeschichte? Wegen der toten Babys? Hast du das alles an Helen ausgelassen?«
Eine andere Frage ging ihm durch den Kopf - Wer bist du wirklich, Ed? -, aber bevor er sie stellen konnte, streckte Ed eine Hand aus, drückte sie auf Ralphs Brust und stieß zu. Ralph fiel rückwärts auf das nasse Gras, wo er sich mit Ellbogen und Schultern abstützte. Er lag mit flach auf den Boden gepreßten Füßen und aufgestellten Knien da und beobachtete, wie Ed plötzlich aus dem Liegestuhl sprang.
»Ralph, leg dich nicht mit ihm an!« rief McGovern von seiner relativ sicheren Position auf dem Bürgersteig.
Ralph schenkte ihm keine Beachtung. Er blieb einfach, wo er war, auf die Ellbogen gestützt, und beobachtete Ed aufmerksam. Er war immer noch ängstlich und wütend, aber diese Empfindungen wurden von einer seltsam kalten Faszination überschattet. Es war Wahnsinn, was er da vor sich sah - der absolut helle Wahnsinn. Kein Comic-Bösewicht, kein Norman Bates, kein Kapitän Ahab. Nur Ed Deepneau, der unten an der Küste in den Hawking Labors arbeitete - eines der Superhirne, wie die alten Männer draußen auf dem Picknickplatz gesagt hätten, aber trotzdem ein ziemlich netter Kerl für einen Demokraten. Und jetzt war der nette Kerl verrückt geworden, total plemplem, und das war nicht erst heute nachmittag passiert, als Ed den Namen seiner Frau auf der Liste gesehen hatte, die im Shaw’s am schwarzen Brett hing. Ralph begriff jetzt, daß Eds Wahnsinn mindestens ein Jahr alt war, und dabei fragte er sich, was für Geheimnisse Helen hinter ihrem normalen, fröhlichen Verhalten und ihrem unbekümmerten Lächeln verborgen haben mochte, und welche kleinen, verzweifelten Signale - abgesehen von den Blutergüssen - ihm möglicherweise entgangen sein konnten.
Und dann ist da noch Natalie, dachte er. Was hat sie gesehen? Was hat sie erlebt? Davon abgesehen, daß sie auf der blutigen Hüfte ihrer stolpernden Mutter über den Parkplatz des Red Apple getragen worden war.
Gänsehaut bildete sich auf Ralphs Armen.
Derweil ging Ed auf und ab, überquerte ununterbrochen den Betonweg und zertrat die Zinnien, die Helen an dessen Rand entlang gepflanzt hatte. Er war wieder zu dem Ed geworden, den Ralph vor einem Jahr am Flughafen gesehen hatte, bis hin zu den knappen, ruckartigen Kopfbewegungen und den stechenden Blicken ins Leere.
Das sollte das arglose Benehmen von vorhin verbergen, dachte Ralph. Er sieht jetzt genauso aus wie damals, als er hinter dem Mann her war, der den Pickup gefahren hat. Wie ein Hahn, der sein kleines Stück des Hofs verteidigt.
»Das alles ist strenggenommen nicht ihre Schuld, das gebe ich zu.« Ed sprach hastig und schlug mit der rechten Faust in die linke Handfläche, während er durch den Gischtschleier des Rasensprengers ging. Ralph fiel auf, daß er jede Rippe von Eds Brustkorb sehen konnte; der Mann sah aus, als hätte er seit Monaten keine anständige Mahlzeit mehr eingenommen.
»Aber wenn die Dummheit einmal ein bestimmtes Maß erreicht hat, fällt es einem schwer, damit zu leben«, fuhr Ed fort. »Sie ist im Grunde genommen wie die drei Weisen, die zu König Herodes kommen und Informationen wollen. Ich meine, wie dumm kann man werden? > Wo ist der, der zum König der Juden geboren ist?< Das fragen sie Herodes. Ich meine, von wegen weise Männer! Richtig, Ralph?«