Ralph sah zum Himmel hinauf und nahm zum erstenmal wirklich die purpur-schwarzen Gewitterwolken zur Kenntnis, die sich über dem Flughafen auftürmten. Sie brachten keinen Regen, nicht unbedingt, noch nicht, aber falls es regnete, würde er mit ziemlicher Sicherheit davon überrascht werden; es gab nirgendwo einen Unterschlupf zwischen hier und dem kleinen Picknickplatz an der Startbahn 3, und selbst dort stand nur ein baufälliger kleiner Unterstand, der immer schwach nach Bier roch.
Er warf dem orangefarbenen Dach noch einen Blick zu, dann streckte er die Hand in die rechte Hosentasche und fühlte nach dem Bündel Banknoten mit dem silbernen Geldclip, den Carolyn ihm zum Fünfundsechzigsten geschenkt hatte. Nichts würde ihn daran hindern, zu dem Hojo zu gehen und ein Taxi zu rufen… abgesehen vielleicht von den Blicken, mit denen der Fahrer ihn betrachten würde. Dummer alter Mann, würden die Augen im Rückspiegel sagen. Dummer alter Mann, bist viel weiter gelaufen als du an so ‘nem heißen Tag hättest sollen. Wenn du geschwommen wärst, wärste ersoffen.
Paranoid, Ralph, sagte ihm die Stimme in seinem Kopf, und jetzt erinnerte ihn ihr glucksender, leicht gönnerhafter Ton an Bill McGovern.
Nun, vielleicht, vielleicht auch nicht. So oder so, er beschloß, das Risiko mit dem Regen einzugehen und zu Fuß nach Hause zu gehen.
Und wenn es nicht nur regnet? Letzten Sommer hat es so sehr gehagelt, daß im August einmal sämtliche Fenster an der Westseite zertrümmert wurden.
»Dann soll es hageln«, sagte er. »So leicht bekomme ich keine blauen Flecken.«
Ralph ging an der Böschung der Extension langsam Richtung Stadt zurück, wobei seine alten hohen Turnschuhe kleine, ausgetrocknete Wölkchen im Staub aufwirbelten. Er konnte das erste Donnergrollen im Westen hören, wo sich die Wolken zusammengezogen hatten. Die Sonne war verdeckt, weigerte sich aber, kampflos aufzugeben; sie umrahmte die Gewitterwolken mit gleißenden goldenen Streifen und schien durch vereinzelte Risse zwischen den Wolken wie der gebrochene Lichtstrahl eines riesigen Filmprojektors. Ralph freute sich, daß er beschlossen hatte zu laufen, obwohl er Schmerzen in den Beinen und ein konstantes, bohrendes Stechen unten im Rücken spürte.
Wenigstens eines, dachte er. Heute nacht werde ich schlafen. Heute nacht werde ich schlafen wie ein verdammter Stein.
Die Randzone des Flughafens - hektarweise trockenes braunes Gras, in das die rostigen Eisenbahnschienen eingesunken waren wie die Überreste eines alten Wracks - lag jetzt links von ihm. In weiter Ferne, pnseits des Sturmzauns, konnte er die United 747 erkennen, gerade noch so groß wie ein Kinderspielzeug, die auf die kleine gemeinsame Schalterhalle von United und Delta zurollte.
Ralphs Blick fiel auf ein anderes Fahrzeug, ein Auto, welches den General Aviation Terminal verließ, der an diesem Ende des Flughafens stand. Es fuhr über den Asphalt auf den kleinen Lieferanteneingang zu, der zur Harris Avenue Extension führte. Ralph hatte in letzter Zeit eine Menge Fahrzeuge diesen Eingang passieren gesehen; er lag nur rund siebzig Meter von dem Picknickplatz entfernt, wo sich die Harris Avenue Altvorderen trafen. Als sich das Auto dem Tor näherte, erkannte Ralph den alten rostigen Datsun von Ed und Helen Deepneau… und der hatte einen Affenzahn drauf.
Ralph blieb an der Böschung stehen und merkte nicht, daß er die Hände ängstlich zu Fäusten geballt hatte, als das kleine braune Auto ohne zu bremsen auf das geschlossene Tor zuraste. Um das Tor von außen zu öffnen, brauchte man eine Magnetkarte; im Inneren wurde es von einer Lichtschranke erledigt. Aber die Lichtschranke befand sich dicht am Tor, sehr dicht, und bei der Geschwindigkeit, die der Datsun hatte…
Im letzten Augenblick (so schien es Ralph jedenfalls) kam das kleine braune Auto knirschend zum Stillstand, kleine blaue Rauchwölken stoben von den Reifen auf, bei denen Ralph an die Landung der 747 denken mußte, dann rollte das Tor langsam in seiner Schiene beiseite. Ralphs Fäuste entspannten sich.
Ein Arm wurde auf der Fahrerseite des Datsun herausgestreckt, winkte auf und ab und drängte das Tor offenbar, sich gefälligst zu beeilen. Das hatte etwas so Absurdes, daß Ralph lächeln mußte. Aber das Lächeln verschwand, bevor auch nur eine Spur der Zähne zu sehen war. Es wehte immer noch ein frischer Wind von Westen, wo die Gewitterwolken sich auftürmten, und der trug die kreischende Stimme des Fahrers im Datsun mit sich:
»Du elendes verschissenes Miststück! Du Aas! Leck mich am Arsch! Beeil dich! Beeil dich, du dreckige stinkende Fotze! Scheißding! Dreckschleuder! Arschloch!«
»Das kann nicht Ed Deepneau sein«, murmelte Ralph. Er setzte sich ohne es zu merken wieder in Bewegung. »Das kann er nicht sein.«
Ed war Chemiker in den Hawking Forschungslabors in Fresh Harbor, einer der freundlichsten, anständigsten jungen Männer, die Ralph jemals kennengelernt hatte. Er und Carolyn hielten große Stücke auf Eds Frau Helen und deren neugeborenes Baby Natalie. Ein Besuch von Natalie gehörte zu den wenigen Dingen, die noch imstande waren, Carolyn ihre Lage vergessen zu lassen, und da Helen das spürte, brachte sie sie häufig vorbei. Ed beschwerte sich nie. Ralph wußte, es gab Männer, die es nicht gern gesehen hätten, wenn die Missus jedesmal, wenn das Baby etwas Neues und Entzückendes machte, zu den alten Leuten in der Straße lief, besonders wenn die Großmama-Figur in dem Bild schwer krank war.
Ralph hatte sich gedacht, daß Ed niemanden zum Teufel wünschen könnte, ohne deshalb eine schlaflose Nacht zu haben, aber…
»Du dreckiges Hurenstück! Beweg deinen verschissenen Arsch, hast du gehört? Arschficker! Fotzenhammer!«
Aber er hörte sich auf jeden Fall wie Ed an. Selbst aus zwei-bis dreihundert Metern Entfernung, und so weit war er noch entfernt, hörte er sich so an.
Jetzt legte der Fahrer des Datsun den Gang ein wie ein Halbstarker an der Ampel, der darauf wartet, daß das Licht grün wird. Abgaswolken furzten aus dem Auspuff. Kaum war das Tor so weit aufgegangen, daß der Datsun passieren konnte, schnellte dieser nach vorne, quetschte sich mit aufheulendem Motor durch die Öffnung, und dabei konnte Ralph den Fahrer deutlich sehen. Er war jetzt so nahe, daß kein Zweifel mehr bestehen konnte; es handelte sich tatsächlich um Ed Deepneau.
Der Datsun holperte die kurze, ungeteerte Strecke zwischen dem Tor und der Harris Street Extension entlang. Plötzlich ertönte eine Hupe, und Ralph sah einen blauen Ford Ranger, der auf der Extension nach Westen fuhr und das Lenkrad herumreißen mußte, um dem heranbrausenden Datsun auszuweichen. Der Fahrer des Pickup sah die Gefahr zu spät, und Ed sah sie offenbar überhaupt nicht (erst später überlegte sich Ralph, daß Ed den Ranger möglicherweise absichtlich gerammt haben könnte). Einem kurzen Quietschen von Reifen folgte ein hohler Knall, als die Stoßstange des Datsun in die Seite des Ford rammte. Die Haube des Datsun wurde zusammengedrückt, dann sprang sie auf und schnellte ein wenig hoch; Scheinwerferglas rieselte auf die Straße. Einen Augenblick später standen beide Fahrzeuge reglos mitten auf der Straße, ineinander verkeilt wie eine seltsame Skulptur.
Ralph blieb vorerst stehen, wo er war, und sah zu, wie sich ein Ölfleck unter dem vorderen Ende des Datsun bildete. Er hatte einige Verkehrsunfälle in seinen fast siebzig Jahren gesehen, die meisten Blechschäden, einer oder zwei ernst, und es verblüffte ihn immer wieder, wie schnell sie passierten und wie wenig dramatisch sie abliefen. Es war nicht wie in einem Film, wo die Kamera alles in Zeitlupe zeigen konnte, und nicht wie eine Videokassette, wo man sich immer wieder ansehen konnte, wie das Auto über die Klippe stürzte, wenn man wollte; normalerweise sah man nur eine Reihe aufeinander zurasender Schlieren, gefolgt von der raschen und tonlosen Abfolge von Geräuschen: quietschende Reifen, der hohle Knall von Metall, das auf Metall prallt, das Klirren von Glas. Dann, voila - tout finis.
Es gab sogar eine Art Verhaltensmaßregel für so eine Situation: Wie Sie sich bei Zusammenstößen mit geringer Geschwindigkeit verhalten sollten. Selbstverständlich gab es das, überlegte Ralph. Wahrscheinlich fanden jeden Tag ein Dutzend Zusammenstöße in Derry statt, im Winter wahrscheinlich doppelt soviel, wenn es schneite und die Straßen glatt wurden. Man stieg aus, man traf sein Gegenüber an der Stelle, wo die beiden Fahrzeuge zusammengeprallt waren (und wo sie in den meisten Fällen noch ineinander verhakt waren), man sah sich den Schaden an, man schüttelte die Köpfe. Manchmal - sogar ziemlich häufig - wurde diese Phase der Begegnung von wütenden Worten begleitet: Schuldzuweisungen wurden ausgesprochen (häufig grob), Fahrkünste in Zweifel gezogen, rechtliche Schritte angedroht. Ralph vermutete, was die Fahrer wirklich sagen wollten, ohne es unumwunden auszusprechen, war: Hör zu, du Idiot, du hast mir einen verdammten Schrecken eingejagt!