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Leydecker nahm den Zahnstocher aus dem Mund, zerbrach ihn, warf ihn in den Rinnstein und holte die Packung wieder heraus. »Zahnstocher?«

»Nein, danke«, sagte Ralph mit verhaltenem Lächeln.

»Kann ich Ihnen nicht verdenken. Scheißangewohnheit, aber ich versuche, mir das Rauchen abzugewöhnen, was noch schlimmer ist. Das Problem mit Typen wie Deepneau ist, sie sind schlauer als gut für sie ist. Sie drehen durch, verletzen jemand, und dann machen sie einen Rückzieher. Wenn man nach der Explosion schnell genug da ist - wie Sie, Ralph -, dann kann man fast sehen, wie sie mit schräggelegtem Kopf dastehen, der Musik lauschen und versuchen, wieder in den Rhythmus zu kommen.«

»Genau so war es«, sagte Ralph. »Ganz genau so.«

»Es ist ein Trick, den die guten ziemlich lange durchziehen können - sie scheinen von Reue ergriffen zu sein, von ihrem eigenen Tun abgestoßen, entschlossen, es wieder gutzumachen. Sie sind überzeugend, sie sind charmant, und manchmal ist es unmöglich zu sehen, daß sie unter dem Zuckerguß vollkommen meschugge sind. Sogar Extremfälle wie Ted Bundy schaffen es manchmal jahrelang, vollkommen normal zu wirken. Zum Glück gibt es nicht viele Typen wie Ted Bundy da draußen, trotz Psychokiller-Büchern und Filmen.«

Ralph seufzte tief. »Was für ein Schlamassel.«

»Ja. Aber Sie sollten es von der guten Seite sehen, Ralph. Wir werden ihn zumindest eine Zeitlang von ihr fernhalten können. Bis zum Abend wird er mit fünfundzwanzig Dollar Kaution wieder draußen sein, aber… «

»Fünfundzwanzig Dollar?« fragte McGovern. Er hörte sich schockiert und zynisch zugleich an. »Das ist alles?«

»Jawohl«, sagte Leydecker. »Ich habe Deepneau das mit der schweren Körperverletzung an den Kopf geworfen, weil es sich furchterregend anhört, aber im Staat Maine ist es nur ungebührliches Verhalten, wenn man seine Frau verhaut.«

»Aber es gibt einen hübschen neuen Kniff in dem Gesetz«, sagte Chris Nell, der zu ihnen kam. »Wenn Deepneau Kaution will, muß er zustimmen, daß er überhaupt keinen Kontakt mit seiner Frau haben darf, bis die Sache vor Gericht geregelt worden ist - er darf das Haus nicht betreten, sie nicht auf der Straße ansprechen, sie nicht einmal anrufen. Wenn er nicht einwilligt, bleibt er im Gefängnis.«

»Angenommen, er stimmt zu und kommt dann trotzdem zurück?« fragte Ralph.

»Dann packen wir ihn am Arsch«, sagte Nell, »denn das ist ein Verbrechen… oder kann eines sein, wenn es der Bezirksanwalt auf die harte Tour wll. Wie auch immer, wer in so einem Fall gegen die Kautionsvereinbarung verstößt, verbringt normalerweise mehr als nur einen Nachmittag im Gefängnis.«

»Und hoffentlich ist die Frau, der zuliebe er diese Vereinbarung bricht, noch am Leben, bis es zur Verhandlung kommt«, sagte McGovern.

»Ja«, sagte Leydecker resigniert. »Das ist manchmal das Problem.«

Ralph ging nach Hause und sah etwa eine Stunde nicht in den Fernseher, sondern durch ihn hindurch. Während einer Werbepause stand er auf und suchte im Kühlschrank nach einer kalten Cola, taumelte und mußte sich an einer Wand abstützen. Er zitterte am ganzen Körper und verspürte einen unangenehmen Brechreiz im Hals. Ihm war klar, es handelte sich lediglich um eine verspätete Reaktion, aber der Schwächeanfall und die Übelkeit machten ihm trotzdem Angst.

Er setzte sich wieder, holte eine Minute mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen tief Luft, stand auf und ging langsam ins Bad. Er füllte die Wanne mit warmem Wasser und legte sich hinein, bis er im Femseher im Wohnzimmer Night Court hörte, die erste der nachmittäglichen Fernsehkomödien, die anfing. Inzwischen war das Wasser in der Wanne fast kalt geworden, und Ralph war froh, daß er aufstehen konnte. Er trocknete sich ab, zog frische Sachen an und entschied, daß eine leichte Mahlzeit zumindest im Bereich des Möglichen lag. Er rief nach unten, weil er dachte, McGovern würde ihm vielleicht gerne auf einen Happen Gesellschaft leisten, aber er bekam keine Antwort.

Ralph stellte Wasser auf, um Eier zu kochen, und rief vom Telefon neben dem Herd das Derry Home Hospital an. Sein Anruf wurde zu einer Frau in der Aufnahme durchgestellt, die im Computer nachsah und ihm versicherte, ja, ganz recht, Helen Deepneau sei eingeliefert worden. Ihr Zustand wurde als stabil beschrieben. Nein, sie hätte keine Ahnung, wer sich um Mrs. Deepneaus Baby kümmere; sie wüßte nur, daß sie eine Natalie Deepneau nicht in der Liste der aufgenommenen Patienten hätte. Nein, Ralph könnte Mrs. Deepneau heute abend nicht besuchen, weil der Arzt eine Besuchersperre verhängt hätte; Mrs. Deepneau selbst hätte darauf bestanden.

Warum sollte sie das tun? wollte Ralph fragen, ließ es aber bleiben. Wahrscheinlich würde die Frau in der Aufnahme ihm sagen, daß sie diese Information nicht im Computer hätte, aber Ralph entschied, daß er sie in seinem Computer hätte, in dem zwischen seinen beiden Ohren. Helen wollte keine Besucher, weil sie sich schämte. Was geschehen war, war nicht ihre Schuld, aber Ralph bezweifelte, ob das etwas an ihrer Einstellung geändert haben würde. Sie war von der halben Harris Avenue gesehen worden, wie sie herumgetaumelt war wie ein übel zusammengeschlagener Boxer, nachdem der Ringrichter den Kampf unterbrochen hatte, sie war im Notarztwagen ins Krankenhaus gefahren worden, und ihr Mann der Vater ihrer Tochter - war dafür verantwortlich. Ralph hoffte, sie würden ihr etwas geben, das ihr half, die Nacht durchzuschlafen; er hatte eine Ahnung, daß am Morgen alles etwas besser aussehen würde. Weiß Gott, viel schlimmer konnte es nicht mehr aussehen.

Verdammt, ich wünschte, jemand würde mir etwas geben, das mir hilft, die Nacht durchzuschlafen, dachte er.

Dann geh zu Dr. Litchfield, Idiot, sagte ein anderer Teil seines Verstands sofort.

Die Frau in der Aufnahme fragte Ralph, ob sie noch etwas für ihn tun könne. Ralph sagte nein und wollte sich gerade bedanken, als es in der Leitung klickte.

»Nett«, sagte Ralph. »Wirklich nett.« Er legte selbst auf, holte sich einen Eßlöffel und ließ die Eier behutsam ins Wasser gleiten. Zehn Minuten später setzte er sich hin, und die gekochten Eier rutschten auf dem Teller herum wie die größten Perlen der Welt, als das Telefon läutete. Er stellte sein Essen auf den Tisch und nahm den Hörer ab. »Hallo?«

Schweigen, nur das Geräusch von Atemzügen.

»Hallo?« wiederholte Ralph.

Ein weiterer Atemzug, diesmal fast so laut wie ein ersticktes Schluchzen, dann wieder ein Klicken in der Leitung. Ralph legte den Hörer auf und sah das Telefon einen Moment an; seine finstere Miene grub drei aufsteigende Wellenlinien in seine Stirn.

»Komm schon, Helen«, sagte er. »Ruf mich zurück. Bitte.« Dann kehrte er zum Tisch zurück, setzte sich und nahm seine kleine Junggesellenmahlzeit ein.

Fünfzehn Minuten später spülte er das Geschirr, als das Telefon wieder läutete. Das ist sie nicht, dachte er, wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch ab und warf es sich über die Schulter, als er zum Telefon ging. Das kann sie unmöglich sein.

Wahrscheinlich Lois oder Bill. Aber ein anderer Teil von ihm wußte es besser.

»Hi, Ralph.«

»Hallo, Helen.«

»Das war ich vor ein paar Minuten.«Ihre Stimme klang heiser, als hätte sie getrunken oder geweint, und Ralph glaubte nicht, daß sie im Krankenhaus Alkohol duldeten.

»Ich dachte es mir.«

»Ich habe deine Stimme gehört und ich… ich konnte nicht…« »Schon gut. Ich verstehe.«

»Wirklich?« Sie stieß ein langes, feuchtes Schniefen aus.

»Ich glaube ja.«

»Die Schwester war hier und hat mir eine Schmerztablette gegeben. Die kann ich echt gebrauchen - mein Gesicht tut weh. Aber ich wollte sie nicht nehmen, bevor ich dich angerufen und dir gesagt habe, was ich sagen muß. Schmerzen sind beschissen, aber ein ausgezeichneter Ansporn.«

»Helen, du mußt gar nichts sagen.« Aber er fürchtete, daß sie es doch mußte, und er hatte Angst davor, was es sein könnte… er hatte Angst, er würde herausfinden, daß sie wütend auf ihn war, weil sie auf Ed nicht wütend sein konnte.