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»Als nächstes könnten sich motorische Probleme zeigen«, sagte Dr. Jamal mit seiner tröstlichen Stimme. »Und ich fürchte, das Augenlicht hat nachgelassen.«

»Kann ich die Nacht mit ihr verbringen?« fragte Ralph leise. »Sie wird besser schlafen, wenn ich da bin.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Und ich auch.«

»Selbstverständlich«, sagte Dr. Jamal. »Das ist eine gute Idee!«

»Ja«, sagte Ralph niedergeschlagen. »Das finde ich auch.«

Und so saß er neben seiner schlafenden Frau, lauschte dem Ticken, das nicht in den Wänden war, und dachte: Eines nicht allzu fernen Tages - vielleicht diesen Herbst, vielleicht diesen Winter - werde ich wieder mit ihr in diesem Zimmer sitzen. Das schien keine Spekulation zu sein, sondern eine Prophezeiung, und er beugte sich hinüber und legte den Kopf auf das weiße Laken über der Brust seiner Frau. Er wollte nicht wieder weinen, konnte es aber trotzdem nicht verhindern.

Das Ticken. So laut und konstant.

Ich würde gerne zu fassen bekommen, was dieses Geräusch macht, dachte er. Ich würde es zertreten, bis es nur noch aus Scherben am Boden besteht. Gott ist mein Zeuge, daß ich es tun würde.

Kurz nach Mitternacht schlief er auf seinem Stuhl ein, und als er am nächsten Morgen aufwachte, war es so kühl wie seit Wochen nicht mehr, und Carolyn war wach, bei Sinnen und strahlte. Sie schien fast gar nicht krank zu sein. Ralph nahm sie mit nach Hause und begann mit der nicht unerheblichen Aufgabe, ihr die letzten Monate so angenehm wie möglich zu machen. Es dauerte eine ganze Weile, bis er wieder an Ed Deepneau dachte; selbst als er die Blutergüsse in Helen Deepneaus Gesicht sah, dauerte es eine ganze Weile, bis er wieder an Ed dachte.

Als der Sommer zum Herbst wurde und der Herbst Carolyns letztem Winter entgegendämmerte, wurden Ralphs Gedanken immer mehr von der Todesuhr beherrscht, die lauter und lauter zu ticken schien, obwohl sie langsamer wurde.

Aber er hatte keine Probleme zu schlafen.

Das kam erst später.

ERSTER TEIL

Kleine kahlköpfige Ärzte

Es existiert ein Abgrund zwischen denen, die schlafen können, und denen, die es nicht können. Das ist eine der großen Unterscheidungen der menschlichen Rasse.

Iris Murdoch Nonnen und Soldaten

Kapitel 1

Etwa einen Monat nach dem Tod seiner Frau litt Ralph Roberts zum erstenmal in seinem Leben an Schlaflosigkeit.

Das Problem war anfangs noch unerheblich, aber es wurde immer schlimmer. Sechs Monate nach den ersten Störungen seines bis dato ungetrübten Schlafzyklus’ hatte Ralph einen Zustand des Elends erreicht, den er kaum aussprechen, geschweige denn akzeptieren konnte. Gegen Ende des Sommers 1993 fragte er sich allmählich, wie es sein würde, seine verbleibenden Jahre auf Erden mit aufgedunsenen Augen in einem Nebel des Wachseins zu verbringen. Selbstverständlich würde es nicht soweit kommen, sagte er sich, es kommt nie soweit.

Aber stimmte das? Er wußte es wirklich nicht, das war das Teuflische daran, und die Bücher zum Thema, die ihm Mike Hanion in der öffentlichen Bibliothek von Derry gab, halfen ihm nicht weiter. Es gab mehrere über Schlafstörungen, aber sie schienen einander zu widersprechen. Manche nannten Schlaflosigkeit ein Symptom, andere eine Krankheit, und mindestens eines einen Mythos. Das Problem ging aber noch weiter; soweit Ralph den Büchern entnehmen konnte, schien sich niemand hundertprozentig sicher zu sein, was Schlaf überhaupt war, wie er funktionierte und was er bewirkte.

Er wußte, er sollte aufhören, den Amateurforscher zu spielen, und zum Arzt gehen, aber das fiel ihm überraschend schwer. Er vermutete, daß er immer noch einen Groll gegen Dr. Litchfield hegte. Immerhin war es Litchfield gewesen, der Carolyns Gehirntumor anfänglich als nervöse Kopfschmerzen abgetan hatte (und Ralph vermutete, daß Litchfield, Zeit seines Lebens Junggeselle, tatsächlich geglaubt haben könnte, es handle sich bei Carolyns Kopfschmerzen lediglich um einen gelinden Anfall von Hitzewallungen), und er war es auch gewesen, der sich medizinisch gesehen so rar machte, wie er nur konnte, als Carolyns wahre Diagnose schließlich feststand. Ralph war überzeugt, wenn er den Mann unverblümt danach fragen würde, würde Litchfield sagen, daß er den Fall an Jamal abgegeben hatte, den Spezialisten… alles ganz ordentlich und vorschriftsmäßig. Ja. Aber Ralph hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Litchfield bei den wenigen Gelegenheiten im Zeitraum zwischen Carolyns ersten Anfällen letzten Juli und ihrem Tod im März, wo er den Arzt gesehen hatte, direkt in seine Augen zu schauen, und er glaubte, eine Mischung aus Unbehagen und Schuldgefühlen in diesen Augen zu erkennen. Es waren die Augen eines Mannes, der mit aller Gewalt zu vergessen suchte, daß er Scheiße gebaut hatte. Ralph vermutete, er konnte Litchfield nur deshalb ansehen, ohne ihm die Fresse polieren zu wollen, weil ihm Dr. Jamal versichert hatte, eine frühere Diagnose hätte wahrscheinlich nichts ändern können; als Carolyns Kopfschmerzen anfingen, war der Tumor schon ziemlich groß gewesen und hatte zweifellos schon kleine Salven bösartiger Zellen in andere Bereiche des Gehirns geschickt wie tödliche kleine Care-Pakete.

Ende April war Dr. Jamal weggezogen, um eine Praxis im südlichen Connecticut aufzubauen, und Ralph vermißte ihn. Er glaubte, mit Dr. Jamal hätte er über seine Schlaflosigkeit reden können, und er glaubte auch, Jamal hätte ihm auf eine Weise zugehört, wie Litchfield es nicht wollte… oder konnte.

Im Spätsommer hatte Ralph genug über Schlaflosigkeit gelesen und wußte, daß der Typus, mit dem er geschlagen war, obwohl keineswegs selten, weitaus weniger häufig vorkam als die gewöhnliche langsame Schlaflosigkeit. Menschen, die nicht unter Schlaflosigkeit litten, befanden sich normalerweise sieben bis zwanzig Minuten nach dem Zubettgehen im ersten Schlaf Stadium. Langsame Schläfer dagegen brauchten manchmal bis zu drei Stunden, bis sie unter die Oberfläche eintauchten, und während normale Schlafende etwa fünfundvierzig Minuten nach dem Eindösen ins dritte Schlafstadium sanken (das in manchen Büchern Theta-Schlaf genannt wurde, wie Ralph herausfand), brauchten langsame Schläfer normalerweise noch einmal eine Stunde, um dorthin zu gelangen… und in vielen Nächten schafften sie es gar nicht. Sie erwachten unausgeruht, manchmal mit verschwommenen Erinnerungen an unangenehme, wirre Träume, und häufig mit dem Eindruck, daß sie die ganze Nacht wachgelegen hätten.

Nach Carolyns Tod litt Ralph zunächst an vorzeitigem Wiedererwachen. Er ging an den meisten Abenden nach den Nachrichten um elf Uhr ins Bett und schlief fast sofort ein, aber statt pünktlich um 6: j 5 Uhr zu erwachen, fünf Minuten bevor der Wecker klingelte, wachte er um sechs auf. Zuerst führte er das lediglich darauf zurück, daß er mit einer leicht vergrößerten Prostata und einem siebzig Jahre alten Nierenpaar leben mußte, aber er schien nie so dringend gehen zu müssen, wenn er aufwachte, und selbst wenn er das bißchen abgelassen hatte, das sich angesammelt hatte, konnte er nicht mehr einschlafen. Er lag einfach in dem Bett, in dem er so viele Jahre lang mit Carolyn gelegen hatte, und wartete darauf, daß es fünf vor sieben wurde (zumindest Viertel vor), damit er aufstehen konnte. Schließlich gab er sogar den Versuch auf, wieder einschlafen zu wollen; er lag einfach nur da, verschränkte die Hände mit den langen, leicht geschwollenen Fingern auf der Brust und sah mit Augen, die sich so groß wie Türknaufe anfühlten, zur schattigen Decke hinauf. Manchmal dachte er an Dr. Jamal da unten in Westport, der mit seinem sanften und tröstlichen indischen Akzent sprach und sich sein kleines Stück des amerikanischen Traums aufbaute. Manchmal dachte er an die Orte, die er und Carolyn in alten Zeiten besucht hatten, und einer, der ihm immer wieder einfiel, war ein heißer Nachmittag am Sand Beach in Bar Harbor, wo sie beide in Badesachen unter einem großen bunten Sonnenschirm an einem Picknicktisch gesessen, frittierte Muscheln gegessen, Budweiser aus Flaschen mit langen Hälsen getrunken und zugesehen hatten, wie Segelboote über den dunkelblauen Ozean dahinzogen. Wann war das gewesen? 1964? 1967? Spielte das eine Rolle? Wahrscheinlich nicht.