Die Veränderungen in seinem Schlafschema hätten an sich auch keine Rolle gespielt, wenn es dabei geblieben wäre; Ralph hätte sich nicht nur mit Wohlbehagen, sondern mit Dankbarkeit damit abgefunden. Alle Bücher, die er in diesem Sommer durchstöberte, schienen eine Weisheit des Volksmunds zu bestätigen, die er sein ganzes Leben lang gehört hatte - die Leute schliefen weniger, wenn sie älter wurden. Wenn eine Stunde Schlaf pro Nacht weniger der einzige Preis sein sollte, den er für das fragwürdige Vergnügen bezahlen mußte, »siebzig Jahre jung« zu sein, würde er ihn mit Freuden bezahlen und sich glücklich schätzen.
Aber es blieb nicht dabei. In der ersten Maiwoche erwachte Ralph um 5:15 Uhr durch das Zwitschern der Vögel. Ein paar Nächte lang versuchte er es mit Ohrenstöpseln, obwohl er von Anfang an bezweifelte, daß das funktionieren würde. Es waren nicht die gerade zurückgekehrten Vögel, die ihn weckten, auch nicht die vereinzelten Laster mit ihren Fehlzündungen auf der Harris Avenue draußen. Er hatte immer zu den Leuten gehört, die mitten in einer Marschkapelle schlafen konnten, und er glaubte nicht, daß sich daran etwas geändert hatte. Die Veränderung war in seinem Kopf vonstatten gegangen. Da drinnen befand sich ein Schalter, etwas drückte jeden Tag ein bißchen früher darauf, und Ralph hatte nicht die geringste Ahnung, wie er etwas dagegen tun konnte.
Im Juni schrak er wie ein Stehaufmännchen um 4:30, spätestens 4:34 Uhr aus dem Schlaf hoch. Und Mitte Juli - nicht ganz so heiß wie der Juli ‘92, aber immer noch heiß genug, recht schönen Dank - war er um vier Uhr wach. In diesen langen Nächten, in denen er zu wenig Platz in dem breiten Bett beanspruchte, wo er und Carolyn in so vielen heißen (und kalten) Nächten miteinander geschlafen hatten, überlegte er sich allmählich, daß das Leben zur Hölle werden würde, sollte der Schlaf sich endgültig von ihm verabschieden. Bei Tageslicht konnte er immer noch über die Vorstellung lachen, aber er fand einige schlimme Wahrheiten über F. Scott Fitzgeralds dunkle Nacht der Seele heraus, und den Hauptgewinn bekam folgende: Um 4:15 Uhr am Morgen scheint alles möglich zu sein. Alles.
Bei Tag konnte er sich einreden, daß er lediglich eine Veränderung seines Schlafrhythmus durchmachte, daß sein Körper auf ganz normale Weise auf eine Anzahl großer Veränderungen in seinem Leben reagierte, deren größte die Pensionierung und der Tod seiner Frau waren. Manchmal benutzte er das Wort »Einsamkeit«, wenn er über sein neues Leben nachdachte, aber er scheute vor dem gräßlichen Wort zurück, das mit »D« anfing, und versteckte es im tiefsten Fach seines Unterbewußtseins, wann immer es einen Augenblick in seinen Gedanken aufblitzte. Einsamkeit war okay. Depressionen waren es eindeutig nicht.
Vielleicht brauchst du mehr Bewegung, dachte er. Vielleicht solltest du Spazierengehen, wie letzten Sommer. Schließlich hast du ein ziemlich ereignisloses Leben geführt - du stehst auf, ißt Toast, liest ein Euch, siehst etwas fern, holst dir zum Mittagessen ein Sandwich gegenüber im Red Apple, beschäftigst dich ein bißchen im Garten, gehst in die Bibliothek oder besuchst Helen und das Baby, wenn sie zu Hause sind, ißt zu Abend, sitzt auf der Veranda und besuchst eventuell McGovern oder Lois Chasse eine Weile. Und dann? Du liest noch ein bißchen, siehst noch ein bißchen fern, spülst das Geschirr, gehst ins Bett. Ereignislos. Langweilig. Kein Wunder, daß du so früh aufwachst.
Nur war das Quatsch. Sein Leben hörte sich ereignislos an, richtig, kein Zweifel, aber in Wirklichkeit war es das nicht. Der Garten war ein gutes Beispiel. Was er da draußen tat, würde ihm nie irgendwelche Preise einbringen, aber es war auch weitaus mehr als nur »herumtüfteln.« An den meisten Nachmittagen jätete er, bis Schweiß einen dunklen Baumumriß auf dem Rücken des Hemds und feuchte Ringe unter den Achseln bildete, und wenn er wieder ins Haus ging, zitterte er nicht selten vor Erschöpfung. »Strafe« wäre wahrscheinlich ein treffenderes Wort gewesen als »tüfteln«, aber Strafe wofür? Daß er vor der Dämmerung aufwachte?
Ralph wußte es nicht, und es interessierte ihn auch nicht. Die Arbeit im Garten beanspruchte einen erheblichen Teil des Nachmittags, sie lenkte ihn von Dingen ab, über die er lieber nicht nachdenken wollte, und das reichte aus, die schmerzenden Muskeln und die gelegentlich vor seinen Augen tanzenden schwarzen Punkte zu rechtfertigen. Er begann seine ausgiebigen Ausflüge in den Garten kurz nach dem vierten Juli und setzte sie den ganzen August hindurch fort, lange nachdem das Frühgemüse geerntet und das Spätgemüse durch die Dürre hoffnungslos vertrocknet war.
»Du solltest damit aufhören«, sagte Bill McGovern eines Abends zu ihm, als sie auf der Veranda saßen und Limonade tranken. Es war Mitte August, und Ralph wachte jeden Morgen gegen 3:30 Uhr auf. »Es scheint abträglich für deine Gesundheit zu sein. Schlimmer, du siehst wie ein Irrer aus.«
»Vielleicht bin ich ein Irrer«, antwortete Ralph kurz angebunden, und sein Tonfall oder der Ausdruck in seinen Augen mußten überzeugend gewesen sein, denn McGovem wechselte das Thema.
2
Er fing wieder an spazierenzugehen - nicht die Marathons von 1992, aber normalerweise schaffte er zwei Meilen täglich, wenn es nicht regnete. Seine übliche Route führte ihn zum pervers benannten Up-Mile Hill, zur öffentlichen Bibliothek von Derry und dann zu Back Pages, einem Antiquariat und Zeitschriftenladen an der Ecke Witcham und Main.
Back Pages stand neben einem vollgestopften Trödlerladen namens Secondhand Rose, Secondhand Clothes, und als er eines Tages im August seines Mißvergnügens an diesem Geschäft vorbeiging, sah Ralph ein neues Plakat zwischen veralteten Ankündigungen von Bohnenmahlzeiten und uralten Kirchentreffen - so aufgeklebt, daß es etwa die Hälfte eines vergilbten Pat-Buchanan-for-President-Plakats verdeckte.
Die Frau auf den beiden Fotos im oberen Teil des Plakats war eine hübsche Blondine Ende Dreißig oder Anfang Vierzig, aber der Stil der Fotos - ernste Totale links, ernstes Profil rechts, bei beiden ein nüchterner weißer Hintergrund - war so beunruhigend, daß Ralph wie angewurzelt stehenblieb. Auf den Fotos sah die Frau aus, als gehörte sie an die Wand eines Postamts oder in ein Fernseh-Dokudrama… und das war, wie der Text des Plakats deutlich machte, kein Zufall.
Die Fotos hatten seine Aufmerksamkeit erweckt, aber der Name der Frau hielt ihn fest.
GESUCHT WEGEN MORDES SUSAN EDWINA DAY stand in großen schwarzen Buchstaben am oberen Rand. Und unter den simulierten Fahndungsfotos, in Rot:
BLEIB AUS UNSERER STADT WEG!
Ganz unten auf dem Plakat stand noch eine Zeile Kleingedrucktes. Ralphs Nahsicht hatte seit Carolyns Tod ziemlich nachgelassen - war mit Pauken und Trompeten zum Teufel gegangen wäre vielleicht ein zutreffenderer Ausdruck gewesen -, daher mußte er sich nach vorne beugen, bis seine Stirn die schmutzige Scheibe von Secondhand Rose, Secondhand Clothes berührte, bevor er sie entziffern konnte:
Mit Unterstützung des Maine Life-Watch Komitees.
Weit hinten in seinem Kopf flüsterte eine Stimme: Hey, hey, Susan Day! How many kids did you kill today?
Susan Day, fiel Ralph wieder ein, war eine politische Aktivistin entweder aus New York oder aus Washington, eine Frau mit schneller Zunge, die Taxifahrer, Friseure und Bauarbeiter mit Helmen regelmäßig zum Wahnsinn trieb. Aber er konnte nicht sagen, warum ihm gerade dieser spezielle Knittelvers in den Sinn gekommen war; er erinnerte ihn an irgend etwas, das ihm nicht einfallen wollte. Vielleicht wandelte sein Verstand einfach nur den alten Protestspruch aus den sechziger Jahren ab, der gelautet hatte: Hey, hey, LBJ! How many kids did you kill today?
Nein, das ist es nicht, dachte er. Nahe dran, aber kein Treffer. Es war…
Kurz bevor sein Gehirn den Namen Ed Deepneau aushusten konnte, sagte eine Stimme fast unmittelbar hinter ihm: »Erde an Ralph, Erde an Ralph, bitte kommen, Ralphie-Baby!«