«Gunnar lügt, wann immer es ihm in den Kram paßt«, sagte Arne.
Lars Baltzersen seufzte.»Ich fürchte, das stimmt.«
Er hatte graues, ordentlich gebürstetes Haar, ein glattrasiertes Gesicht und war einfallslos gekleidet. Ich kam allmählich hinter die norwegischen Verhaltensmuster — er gehörte zu der sehr großen Kategorie der nüchternen, eher ernsten Leute, die freundlich, effizient und kaum je gestreßt sind. Es mangelte augenfällig an Elan, aber die Arbeit würde bestimmt erledigt werden. Die Hetzjagd des Daseins im Schrittempo. Sehr zivilisiert.
Es gab natürlich auch andere Typen.
«Wen ich hier gar nicht mag«, hatte Emma Sherman gesagt,»das sind die Besoffenen.«
Ich hatte sie am vergangenen Abend im Hotel zum Essen eingeladen und ihr dann einige Stunden lang zugehört, in denen sie mir ihr Leben mit Bob, ihre Befürchtungen und ihre Erfahrungen in Norwegen in allen Einzelheiten geschildert hatte.
«Nach meiner Ankunft«, hatte sie gesagt,»aß ich zunächst immer im Speisesaal des Hotels, und da kamen dauernd Männer an meinen Tisch und fragten, ob sie sich zu mir setzen dürften. Sie waren durchaus höflich, aber auch sehr, sehr hartnäckig. Sie wollten partout nicht wieder gehen. Meistens mußte mich der Oberkellner von ihnen befreien. Er sagte mir, sie seien betrunken. Dabei sahen sie eigentlich gar nicht so aus. Sie schwankten nicht, oder so etwas.«
Ich hatte gelacht.»Wenn man bedenkt, was alkoholische Getränke hierzulande kosten, ist das auch kein Wunder.«
«Nein«, sagte sie.»Jedenfalls habe ich aufgehört, im Hotel zu essen. Ich mußte ja zusehen, daß mein Geld so lange reichte wie möglich, und außerdem machte es mir keinen Spaß, allein zu essen.«
Arne fragte:»Wo möchtest du denn zuerst hin?«
Er gehörte zur dritten Gruppe — zu den Leuten mit einem Tick. Die gibt es überall.
«Zum Wiegeraum, würde ich sagen.«
Beide nickten zustimmend. Arne zog sich die Kapuze wieder über den Kopf, und dann traten wir hinaus in die rauhe Luft. Die Zuschauermenge war zu dem angeschwollen, was Arne als >sehr groß< einstufte, aber es war immer noch viel Platz. Einer der großen Vorzüge des Lebens in Norwegen war vermutlich die geringe Bevölkerungsdichte. Ich hatte in der gemütlichen Landeshauptstadt bislang noch nirgends eine Schlange, ein Geschiebe oder irgend jemanden bemerkt, der sich vorgedrängelt hätte. Warum auch, wo doch stets genug Platz für alle da zu sein schien?
Die Helfer, die an den Toren der einzelnen Tribünenbereiche die Eintrittskarten kontrollierten, waren eifrige, ungefähr zwanzigjährige junge Männer — die meisten blond und alle mit blauen Armbinden versehen. Sie kannten Arne natürlich, aber obwohl ich in seiner Begleitung war, überprüften sie meinen Ausweis, und die ernsten Mienen erhellten sich kaum, als sie mich mit einem Kopfnicken durchließen. Lars Baltzersen hatte mir eine zwölf mal acht Zentimeter große Karte gegeben, auf der adgang faddock, adgang stallomradet, adgang indre bane und noch der eine oder andere weitere adgang aufgestempelt war, und es hatte ganz den Anschein, als würde ich nicht sehr weit kommen, wenn ich sie verlöre.
Der Wiegeraum — schwarze Holzwände, weiße Farbe, rot gedecktes Dach — lag auf der anderen Seite des Führringes, wo sich die Jockeys bereits auf das zweite Rennen vorbereiteten. Alles sah sauber, wohlgeordnet und gefällig aus, und obwohl mein Auge darauf getrimmt war, auch noch auf eine Entfernung von fünfhundert Schritt und bei dichtem Nebel Schwachstellen zu erkennen, vermochte ich keine zu entdecken. Selbst bei Pferderennen blieb man hier freundlich. Ein paar der Stallburschen, die die Pferde im Kreis führten, trugen wie die Jockeys Pullover in den Farben der Besitzer — eine gute und nützliche Selbstdarstellung der Ställe, die ich sonst noch
nirgends gesehen hatte. Ich sagte das Arne.
«Ja«, meinte er,»das machen heute viele der Privatställe. Es hilft den Zuschauern, ihre Farben mitzukriegen.«
Zwischen dem Sattelplatz und dem U-förmigen Gebäude mit dem Wiegeraum sowie in dem U selbst befand sich eine mit Ziersträuchern bepflanzte Grünfläche. Wer vom Wiegeraum zum Sattelplatz wollte, mußte diese kleine Grünanlage auf vergleichsweise schmalen Wegen entweder rechts oder links umgehen — das war angesichts der riesigen Betonflächen daheim mal etwas anderes, man brauchte aber auch eine Menge Zeit für Entschuldigungen.
Im Wiegeraum angekommen, vergaß Arne alle Abhörgeräte und machte mich schnell und ohne sich ein einziges Mal umzublicken mit einem Haufen Leute bekannt — so etwa mit dem Geschäftsführer der Rennbahn, mit dem Sekretär des Rennvereins und mit dem für die Waage verantwortlichen Mann. Ich schüttelte Hände und plauderte ein wenig, und obwohl sie alle wußten, daß ich auf der Suche nach Bob Sherman war, traf ich auf niemanden, den meine Anwesenheit in Unruhe versetzt hätte.
«Hier entlang, David«, sagte Arne und ging mit mir durch einen Seitengang auf eine offene Tür zu, die auf die Rennbahn hinausführte. Ein paar Schritte vor dieser Tür wandte er sich plötzlich nach rechts, und wir befanden uns in dem Büro, aus dem das Geld entwendet worden war. Es war ein einfacher, geschäftsmäßig eingerichteter Raum mit hölzernen Wänden, hölzernem Fußboden, hölzernen Tischen, die gleichzeitig als Schreibtische dienten, und hölzernen Stühlen (was sonst bei all diesen Wäldern?). Es gab freundliche, rotkarierte Vorhänge, eine erstklassige Zentralheizung und in einer Ecke einen soliden Safe.
Außer uns war niemand da.
«Das ist alles, was es hier zu sehen gibt«, sagte Arne.»Die
Taschen mit dem Geld standen dort auf dem Fußboden«- er zeigte auf die Stelle —,»und die Listen mit den Gesamteinnahmen der einzelnen Kassen lagen dort auf dem Tisch, alles so wie immer. Die Listen haben wir noch.«
Es war mir schon ein paarmal aufgefallen, daß sich Arne für den Verlust des Geldes überhaupt nicht verantwortlich fühlte, und es schien ihm auch niemand — und sei es andeutungsweise — die Schuld daran zu geben, obwohl er doch eigentlich, ging man von den elementarsten Anforderungen an einen Sicherheitsbeamten aus, die allerschlechtesten Noten verdient hätte.
«Habt ihr das System mit den Taschen unverändert beibehalten?«fragte ich ihn.
Arne warf mir einen Blick zu, in dem sich Belustigung und Kränkung mischten.
«Nein. Seit dem Diebstahl werden die Taschen sofort in den Safe getan.«
«Wer hat die Schlüssel?«
«Ich, der Geschäftsführer und der Sekretär des Rennvereins.«
«Und ihr drei habt alle geglaubt, einer der beiden anderen hätte das Geld schon im Safe verstaut?«
«So ist es.«
Wir verließen das Büro und traten wieder hinaus ins Freie. Einige Jockeys, die sich für spätere Rennen schon umgezogen hatten und die Farben ihres Stalles trugen, im Augenblick aber noch in warme Mäntel gehüllt waren, gingen mit uns durch den Gang hinaus, und draußen stiegen wir alle eine Treppe hinauf, die zu einer kleinen, offenen, an das Gebäude mit dem Wiegeraum angebauten Tribüne führte, welche etwa eine Achtelmeile vom Zielpfosten entfernt war. Von dort oben aus sahen wir uns das zweite Rennen an.
Arne hatte wieder damit angefangen, sich ängstlich umzusehen, obwohl kaum zwanzig Leute auf der kleinen Tribüne waren. Ich ertappte mich dabei, daß ich es auch schon tat — es war ansteckend. Immerhin entdeckte ich auf diese Weise einen englischen Jockey, der mich kannte, und als nach dem Finish alle auf die Treppe zuströmten, richtete ich es so ein, daß ich an seine Seite kam. Arne ging weiter die Treppe hinunter, während der Jockey leicht zurückzuhalten war und stehenblieb, als ich seinen Arm berührte.
«Hallo«, sagte er überrascht,»Sie hier?«
«Bin wegen Bob Sherman gekommen«, sagte ich zur Erklärung.
Ich hatte festgestellt, daß ich weitaus bessere Resultate erzielte, wenn ich rundheraus sagte, was mich interessierte. Dann vergeudete niemand Zeit damit, sich zu fragen, weswegen ich ihn wohl im Verdacht haben könnte, und wenn sich die Leute nicht in die Defensive gedrängt fühlten, redeten sie leichter.