«Ah, verstehe. Haben Sie den armen Kerl schon gefunden?«
«Noch nicht«, antwortete ich.
«Lassen Sie ihn doch laufen. Was soll’s.«
Rinty Ranger kannte Bob Sherman so gut wie jeder, der fünf Jahre lang in der gleichen kleinen Berufsgruppe gearbeitet hatte, aber sie waren keine engen Freunde. Ich nahm seine Bemerkung als Ausdruck einer eher allgemeinen Sympathie für den Fuchs und fragte ihn, ob er diesen Diebstahl nicht auch für eine verdammte Dummheit halte.
«Allerdings«, stimmte er mir zu.»Ich wette, er hat sich schon fünf Minuten später gewünscht, es nicht getan zu haben. Aber das ist typisch Bob, sich in was reinzustürzen, ohne groß nachzudenken.«
«Das macht ihn zu einem guten Jockey«, sagte ich und dachte daran, wie er die Hindernisse ohne Rücksicht auf Verluste
anging.
Rinty grinste, und sein schmales, scharfes Gesicht über dem Mantel aus Schaffell sah verfroren aus.»Ja, ja. Hat ihm diesmal aber nichts gebracht.«
«Was hat er denn noch Impulsives getan?«
«Ich weiß nicht. War immer hinter Projekten her, die schnellen Reichtum versprachen. Zum Beispiel Grundstückskäufe auf den Bahamas oder die Unterstützung verrückter Investoren, und ich habe ihn sogar mal vom Verkauf gestaffelter Verkaufsrechte reden hören, aber da haben wir ihm alle gesagt, er solle bloß nicht so blöd sein. Ich meine, es ist schon schwer genug, sich die Kohle zu verdienen, da will man sie doch nicht zum Fenster rausschmeißen.«
«Waren Sie überrascht, als Sie hörten, daß er das Geld gestohlen hat?«fragte ich.
«Natürlich war ich das, du liebe Güte, ja. Aber mich hat noch mehr überrascht, daß er getürmt ist. Ich meine, warum hat er die Beute nicht einfach versteckt und weitergemacht, als wenn nichts wäre?«
«Dazu muß man die Nerven haben«, sagte ich, aber genau die hatte Bob Sherman ja.»Außerdem befand sich das Geld in schweren Segeltuchtaschen, die nicht so leicht aufzukriegen waren. Er hätte nicht genug Zeit gehabt, das alles zu erledigen und dann auch noch seinen Flieger zu erwischen.«
Rinty dachte ein wenig nach, kam aber zu keinem brauchbaren Ergebnis.»Blöder Hund«, sagte er schließlich.»Nette Frau, Kind unterwegs, guter Job. Man sollte meinen, er hätte mehr Grips. «Soweit war ich in meinen Überlegungen auch schon gediehen.
«Immerhin, er hat mir damit einen Gefallen getan«, sagte Rinty.»Ich reite beim Grand National hier an seiner Stelle. «Er öffnete seinen Schaffellmantel ein ganz klein wenig, um mir die Farben darunter zu zeigen.»Der Besitzer, ein Typ namens Torp, ist sowieso nicht allzugut auf Bob zu sprechen. Er sagt, Bob hätte beim letzten Mal, als er hier war, spielend gewinnen können. Sagt, er hätte den Sieg verschenkt, zu lange gewartet, wäre das Rennen zu schnell angegangen, hätte die Außenbahn nehmen sollen, hätte das Pferd am Graben nicht in die richtige Absprungposition gebracht — was auch immer, Bob hat’s falsch gemacht.«
«Trotzdem beschäftigt Torp noch einen weiteren englischen Jockey.«
«Stimmt. Wissen Sie, wie viele einheimische Steeplechase-Jockeys es gibt? Ungefähr fünfzehn, mehr nicht, und davon sind ein paar Engländer oder Iren. Die meisten sind Angestellte der Besitzer. Hier gibt’s nicht so viele Selbständige wie bei uns, weil sie dafür nicht genug Rennveranstaltungen haben. Viele Jockeys fahren an den Samstagen nach Schweden, denn das ist der Tag, an dem dort die Rennen stattfinden. Hier sind sie an Donnerstagen und Sonntagen. Das ist alles. Wohlgemerkt, sie halten sich ihre Springer nicht bloß zum Anschauen. Die laufen alle mindestens einmal pro Woche, und da es in jeder Woche nur vier oder fünf Hindernisrennen gibt. das andere sind alles Flachrennen. wird die Sache interessant.«
«Waren Sie und Bob oft zusammen hier?«
«In diesem Jahr waren es vier oder fünf Reisen, glaube ich. Aber ich war auch im vorigen Jahr hier, er nicht.«
«Wie lange dauert so eine Reise?«
Er sah mich überrascht an.»Meistens nur einen Tag. Wir reiten am Samstagnachmittag in England, fliegen um halb sieben, reiten hier am Sonntag, versuchen, wenn möglich, den letzten Flieger zurück zu kriegen, sonst den um acht Uhr fünfzehn am Montagmorgen. Manchmal fliegen wir auch erst am Sonntag früh her, aber das ist ein bißchen knapp. Keine Zeitreserven, wenn’s mal unvorhergesehene Verzögerungen gibt.«»Lernen Sie während Ihrer Zeit hier die Leute gut kennen?«
«So langsam, denke ich. Wieso?«
«Würden Sie sagen, daß Bob Sherman hier in Norwegen Freundschaften geschlossen hat?«
«Lieber Gott, nein, soviel ich weiß, nicht. Aber wenn, dann hätte ich es höchstwahrscheinlich auch gar nicht mitgekriegt. Er kennt natürlich einen Haufen Trainer und Besitzer. Oder meinen Sie Mädchen?«
«Nicht speziell. Gab’s welche?«
«Glaube nicht. Er mag seine Alte.«
«Würde es Ihnen etwas ausmachen, über diese Frage mal sehr gründlich nachzudenken?«
Wieder sah er mich überrascht an.»Wenn Sie wollen?«
Ich nickte. Er verlängerte die Brennweite seines Blickes in zufriedenstellender Manier und konzentrierte sich voll. Ich drängte ihn nicht und wartete ab, beobachtete derweil die Zuschauer. An britischen Maßstäben gemessen, waren sie jung — wenigstens die Hälfte unter dreißig, die Hälfte blond, alle jungen Leute in blauen, roten, orangefarbenen oder gelben Anoraks, so daß sich jene farbige, zufällige Uniformität ergab, wie sie Bühnenbildner für ihre Revuen entwerfen.
Rinty Ranger rührte sich und stellte seinen Blick wieder auf die Gegenwart ein.
«Ich weiß nicht. Er wohnte ein paarmal bei Mr. Sandvik und meinte hinterher, er wäre mit dem Sohn besser zurechtgekommen als dessen Vater. Ich habe ihn mal kennengelernt, den Sohn, meine ich, als sich Bob bei einem Rennen mit ihm unterhielt. aber ich könnte nicht behaupten, daß sie dicke Freunde waren oder so was.«
«Wie alt ist er, ganz grob?«
«Der Sohn? Sechzehn, siebzehn. Vielleicht auch schon achtzehn.«»Sonst noch jemand?«
«Ja. einer von Gunnar Holths Leuten. Ein Ire, Paddy O’Flaherty. Den kannte Bob gut, weil der auch mal für Tasker Mason gearbeitet hat, bei dem Bob in der Lehre war. Eine Zeitlang waren die beiden Stallburschen bei ihm. Ich glaube, Bob wohnt vor allem wegen Paddy gern bei Gunnar Holth.«
«Wissen Sie, ob Paddy ein Auto hat?«
«Keine Ahnung. Warum fragen Sie ihn nicht selbst? Er muß doch heute hier sein.«
«Waren Sie hier?«fragte ich.»An dem Tag, an dem Bob verschwand?«
«Nein, tut mir leid.«
«Gut. Hm. noch irgend etwas, was nicht ganz so war, wie Sie’s erwartet hatten?«
«Was für elende Fragen! Also. mir fällt nichts mehr ein. außer, daß er seinen Sattel dagelassen hat.«
«Bob?«
«Ja. Sein Sattel ist im Umkleideraum. Und sein Helm auch. Er muß gewußt haben, daß er nie wieder irgendwo auf dieser Welt ein Rennen reiten wird, dieser Blödmann, denn sonst hätte er die Sachen nicht liegenlassen.«
Ich ging in Richtung Treppe. Rinty hatte mir nicht viel zu erzählen gewußt, aber wenn es viel zu erzählen gegeben hätte, dann wäre Bob von der Polizei des einen oder des anderen Landes wohl schon längst gefunden worden. Rinty folgte mir nach unten, und ich wünschte ihm für das Grand National viel Glück.
«Danke«, sagte er.»Kann aber nicht behaupten, daß ich Ihnen dasselbe wünsche. Lassen Sie den armen Kerl doch in Ruhe.«
Am Fuße der Treppe unterhielt sich Arne mit Per Bj0rn Sandvik. Sie wandten sich mir mit einem Lächeln zu, um mich sozusagen in ihre Runde aufzunehmen, und ich stellte die heikle
Frage mit so viel Takt wie möglich.
«Ihr Sohn Mikkel, Mr. Sandvik. Halten Sie es für möglich, daß er Bob vom Rennplatz weg und irgendwohin gefahren hat? Natürlich ohne zu wissen, daß Bob das Geld bei sich hatte?«