Per Bj0rn reagierte auf die Implikation, daß sein Sohn, wenn auch unwissentlich, einem Dieb geholfen und dann auch noch kein Wort darüber verloren haben könnte, weit weniger heftig, als es manch anderer Vater getan hätte. Es war kaum ein Anflug von Erregung zu spüren.
Er antwortete verbindlich:»Mikkel kann noch nicht fahren. Er geht noch zur Schule. er ist erst vor sechs Wochen siebzehn geworden.«
«Das ist gut«, sagte ich zur Entschuldigung und dachte, die Sache sei damit erledigt.
Per Bj0rn sagte ohne merklichen Unmut:»Sie entschuldigen mich«, und ging davon. Arne, der wie wild blinzelte, fragte mich, wohin ich als nächstes wolle. Ich sagte, ich würde gern Paddy O’Flaherty sprechen, und so machten wir uns auf die Suche nach ihm. Wir fanden ihn im Stall, wo er Gunnar Holths Pferd für das Grand National fertig machte. Es stellte sich heraus, daß er der Bursche mit der Wollmütze gewesen war, der eine wenig schmeichelhafte Bemerkung über ein Pferd gemacht hatte. Er bezeichnete sich als Gunnars Futtermeister.
«Was ich nach dem Rennen gemacht habe?«wiederholte er.
«Das, was ich immer mache. Die Pferde nach Hause gebracht, sie abgerieben und gefüttert.«
«Und danach?«
«Danach auch alles wie immer. Rein in die Dorfkneipe. Da gibt es ein flottes kleines Ding, Sie verstehen schon.«
«Besitzen Sie ein Auto?«
«Sicher doch. natürlich habe ich eins, aber die Reifen sind so blank wie ein Kinderpopo, und ich bin nicht mehr scharf drauf, damit rumzufahren. Außerdem wird’s Winter. Da steht es auf Ziegelsteinen aufgebockt.«
«Wann haben Sie das Auto aufgebockt?«
«Die Polizei hat mich wegen der Reifen angehalten, also das war. hm, bei einem oder zweien kommt schon das Leinen durch, wenn man genau hinschaut. Das ist jetzt sicher gute sechs Wochen her.«
Danach schlenderten Arne und ich umher, und ich verschaffte mir einen allgemeinen Eindruck von dem, was auf dem Platz vor sich ging. Später überquerten wir die Bahn, um ein Rennen vom Turm aus zu verfolgen. Dieser Turm sah ein bißchen so aus wie der Kontrollturm eines kleinen Flugplatzes — er war zwei Geschosse hoch und hatte oben einen Raum mit Rundumverglasung. In diesem Horst saßen während der Rennen zwei scharfäugige Herren hinter noch schärferen Feldstechern — die beiden waren die nicht-automatischen Überwachungskameras, denen keine Trickserei entging.
Arne machte mich bekannt. Ich könne jederzeit auf den Turm kommen, aber bitte, gern, sagten sie lächelnd. Ich dankte ihnen und sah mir von dort oben das nächste Rennen an — ich blickte direkt auf das schmale, verlängerte Oval der Rennbahn hinab.
Ein Rennen für zweijährige Steher über sechzehnhundert Meter. Sie starteten auf der anderen Seite fast genau in Höhe des Turms, jagten weit davon, umrundeten die ziemlich scharfe Kurve am unteren Ende der Bahn, schossen die lange Gerade hinauf und liefen unterhalb unseres Standorts ins Ziel ein. Es gab ein Fotofinish. Die alles sehenden Augen lösten sich von ihren Ferngläsern. Beide Herren nickten zufrieden und sagten, sie seien zum nächsten Rennen wieder da.
Bevor ich Arne die Treppe hinunter folgte, fragte ich ihn, wie die Pferde beim Grand National laufen würden, weil dies der Anordnung der Hindernisse nicht unmittelbar zu entnehmen war.
«Die Bahn hat die Form einer Acht«, sagte er und machte eine unbestimmte Handbewegung.»Drei Durchgänge. Du wirst es sehen, wenn sie laufen. «Er schien den Wunsch zu haben, möglichst schnell an einem ganz anderen Ort zu sein, aber nachdem wir über die Bahn zum Sattelplatz zurückgekehrt waren, stellte sich heraus, daß er lediglich hungrig war und die Zeit so berechnet hatte, daß wir noch etwas essen konnten, bevor das Norsk St. Leger eröffnet wurde. Er zauberte ein paar belegte Brötchen von riesigen Ausmaßen herbei, deren Belag jeweils von Krabben über Hering, Käse, Leberpastete und Eier bis hin zu Roastbeef reichte, wobei alles noch mit sauren Gürkchen, Mayonnaise und überall verteiltem, nicht identifizierbarem Knuspergebäck verziert war. Arne schaffte die ganze Runde, während ich schon in der Geraden platzte.
Zu den Sandwiches tranken wir Wein — Arne hatte eine ganze Flasche besorgt. Er meinte, wir könnten später zurückkehren und sie austrinken. Wir nahmen unsere Mahlzeit in dem großen, warmen Raum zu uns, den er früher am Tag gemieden hatte — augenblicklich behelligten ihn anscheinend keine unsichtbaren Zuhörer.
«Wenn du morgen nach Hause fliegst, David«, sagte er,»dann komm doch heute zum Abendessen zu uns.«
Ich zögerte.»Da ist noch Emma Sherman.«
«Oh, diese Frau!«rief er aus. Er sah sich um, obwohl kaum ein halbes Dutzend Leute im Raum waren.»Wo ist sie? Sie verfolgt mich doch sonst immer.«
«Ich habe gestern mit ihr gesprochen. Habe sie überredet, heute nicht hierherzukommen und morgen nach England zurückzureisen.«
«Großartig. Ganz großartig, mein Lieber. «Er rieb sich die Hände.»Dann wird sie schon zurechtkommen. Und du kommst zum Abendessen zu uns. Ich rufe eben mal Kari an.«
Ich dachte an Karis Haar und an Karis Figur — alles war genau so, wie es sein sollte. Ich stellte sie mir im Bett vor. Wahrscheinlich hätte ich mir derartige Gedanken nicht gestatten dürfen, aber genausogut hätte man einem Fisch das Schwimmen verbieten können. Ein Jammer, daß sie Arnes Frau ist, dachte ich. Es würde mir die Sache wesentlich erleichtern, wenn ich wegbliebe.
«Du kommst?«fragte Arne.
Ich bin schwach, einfach schwach. Ich sagte:»Sehr gern.«
Er lief sofort geschäftig davon, um Kari anzurufen, und kehrte strahlend zurück.
«Sie freut sich. Sie meint, sie wird dir Moltebeeren vorsetzen, sie hätte gerade gestern welche gekauft.«
Wir gingen wieder in den unwirtlichen Nachmittag hinaus und sahen uns zusammen das große Rennen an. Danach verschwand Arne wegen offizieller Geschäfte, und ich wanderte eine Weile allein umher. Zwar waren Organisation und Instandhaltung ohne Frage erstklassig, aber es handelte sich bei 0vrevoll — verglichen mit britischen Plätzen — auch um keine große Rennbahn. Viel Platz, nur wenige Gebäude. Jeder konnte sehen, niemand wurde geschubst, bedrängt oder zerquetscht. Platz ist doch der größte Luxus, dachte ich, als ich an einem kleinen, länglichen Zierteich entlangging, neben dem eine Militärkapelle in vollster Lautstärke spielte. In bunten Grüppchen saßen Kinder zu Füßen der Musiker, und ein paar von ihnen spähten interessiert in die vibrierenden Öffnungen der Posaunen hinein.
0vrevoll war, wie man mir gesagt hatte, eine noch ziemlich neue Rennbahn und die einzige in Norwegen, wo Flach- und Hindernisrennen veranstaltet wurden. Bei den meisten Rennen hierzulande handelte es sich — ähnlich wie in Deutschland — um Trabrennen.
Für das Grand National begab ich mich wieder auf den Turm, der, wie ich festgestellt hatte, in der kleineren, oberen Hälfte der Acht stand — die größere nahm den Hauptteil des Platzes ein und lag innerhalb der Flachbahn. Zwanzig Pferde gingen die dreieinhalb Durchgänge in scharfem Tempo an, und die Fernglasmenschen in der Glaskuppel drehten sich wie zwei Kreisel. Gleich nach dem Start umrundeten die Pferde den Turm, kamen dicht daran vorbei, galoppierten in Richtung Wassergraben und weiter zum entferntesten Teil der Bahn, brachten die untere Kurve hinter sich und kehrten zum Ziel zurück. Im oberen Teil der Bahn, in der Nähe des Turms, befand sich ein großer Teich, auf dem ein Schwanenpaar in würdevoller Eintracht umherschwamm, auf der anderen Seite paddelte ein Paar kleiner, einander ergebener schwarzweißer Enten. Keines der beiden Paare nahm von dem Pferdepulk Notiz, der nur wenige Meter entfernt an ihrem Zuhause vorbeidonnerte.
Rinty Ranger gewann das Rennen, nachdem er zu Beginn des letzten Durchgangs die Führung übernommen und dann alle Herausforderer erfolgreich abgewehrt hatte, und ich konnte die Zähne des triumphierenden Reiters aufblitzen sehen, als er den Zielpfosten passierte.