Das Kind hatte sich nicht geirrt. Wächsern weiß und grausig anzusehen, lag sie auf dem Asphalt, die Finger gegen den Regen schlaff gekrümmt.
Das Kind hatte uns allerdings verschwiegen, daß die Hand nicht allein war.
Eng an die Tribünenrückwand gedrückt, lag ein länglicher, mit einer schwarzen Plane abgedeckter Haufen. Etwa in seiner Mitte und bis zum Gelenk sichtbar, lugte die Hand unter der Plane hervor.
Der Einsatzleiter packte wortlos eine Ecke der Plane und zog sie weg.
Arne sah hin, schoß ins nächste Gebüsch und gab von sich, was Kari ihm zum Frühstück vorgesetzt hatte. Baltzersen wurde grau im Gesicht und preßte eine zitternde Hand vor den Mund. Selbst den Polizisten schien schlecht zu werden, und ich fügte meinen unerwünschten Erinnerungsbildern ein weiteres hinzu.
Er war wirklich nicht mehr zu erkennen — die Feststellung der Identität und der Todesursache würde ein harter Job werden. Aber Größe und Bekleidung paßten, und neben ihm lag auch die Reisetasche, auf der die schwarz aufgedruckten Initialen R. T. s. noch zu erkennen waren.
Fest um seine Brust war ein Nylonseil geschnürt, ein zweites um seine Beine, und von beiden Knoten — der eine saß über dem Brustbein, der andere über den Knien — hingen kurze Stücke Seil herab, deren Enden ausgefranst waren.
Einer der Beamten sagte etwas zu seinem Chef, was Baltzersen netterweise übersetzte.
«Das ist der Mann, der getaucht ist«, sagte er.»Seine Kollegen seien bei der Suche mit der Stange an einen Zementblock gestoßen. Er habe sich da noch nichts dabei gedacht, aber er sagt, auch an diesem Zementblock seien ausgefranste Seilenden zu sehen gewesen. Er meint, die hätten so ausgesehen wie diese hier.«
Der Einsatzleiter zog die Plane über dem tragischen Bündel zurück und gab seinen Leuten weitere Anweisungen. Arne stand ein paar Schritte abseits, wischte sich Gesicht und Mund mit einem großen weißen Taschentuch ab und sah überall hin, nur nicht zu der schwarzen Plane. Ich ging zu ihm und erkundigte mich, ob es ihm wieder besser gehe. Er zitterte und schüttelte elend den Kopf.
«Du brauchst einen Drink«, sagte ich.»Fahr doch nach Hause.«
«Nein. «Er schauderte.»Es wird schon gehen. Wie dumm von mir. Tut mir leid, David.«
Wir gingen zusammen zur Vorderseite der Tribüne, wo wir uns wieder zu Baltzersen und dem Einsatzleiter gesellten, die ihrerseits zu dem kleinen Jungen zurückgekehrt waren. Baltzersen zog mich geschickt ein paar Schritte beiseite und sagte leise:»Ich möchte Arne nicht erneut aus der Fassung bringen. Der Junge sagt, die Hand sei am Anfang gar nicht zu sehen gewesen. Er habe die Plane ein bißchen angehoben, um mal zu schauen, was darunter sei. Sie wissen ja, wie Kinder so sind. Und da habe er etwas Blasses gesehen und versucht, es herauszuziehen. Das war die Hand. Als er gesehen habe, was es war. da sei er davongerannt.«
«Der arme kleine Kerl«, sagte ich.
«Er hätte nicht hier sein dürfen«, meinte Baltzersen, und sein Tonfall besagte: Geschieht ihm ganz recht.
«Wenn er nicht gewesen wäre, hätten wir Bob Sherman nie gefunden.«
Lars Baltzersen sah mich nachdenklich an.»Ich nehme an, daß derjenige, der ihn aus dem Teich herausgeholt hat, mit dem Auto wiederkommen und ihn abholen wollte, um sich seiner anderswo zu entledigen.«
«Nein, das glaube ich nicht«, entgegnete ich.
«Es muß aber so sein. Wäre es ihm gleich gewesen, ob Sherman gefunden wird oder nicht, dann hätte er ihn doch im Teich lassen können.«
«O ja, gewiß. Ich meinte nur. warum ihn woanders hinbringen? Warum nicht einfach wieder in den Teich. sobald es dunkel ist? Das wäre doch schließlich der einzige Ort, an dem nie wieder jemand nach Bob Sherman suchen würde.«
Er bedachte mich mit einem langen, abwägenden Blick, und zum ersten Mal an diesem Vormittag und völlig unerwartet lächelte er.
«Tja. Sie haben getan, worum wir Sie gebeten haben.«
Ich lächelte matt zurück und fragte mich, ob ihm wohl schon klargeworden war, was die Arbeit dieses Vormittags bedeutete. Aber Mörder zu fangen, das war Sache der Polizei, nicht die meine. Ich wollte jetzt nur noch den Flug um zwei Uhr fünf nach Heathrow kriegen, was mir kaum Zeit genug für das ließ, was ich vorher noch erledigen mußte.
Ich sagte:»Wenn ich mal wieder irgendwie behilflich sein kann.«- wie man das eben so dahinsagt, verabschiedete mich von ihm und von Arne und ließ sie mit ihrem Problem im Nieselregen stehen.
Ich holte Emma Sherman wie verabredet aus ihrem Hotel ab und nahm sie in mein Zimmer im Grand Hotel mit. Ich hatte sie eigentlich zum Mittagessen einladen wollen, bevor wir zum Flughafen hinausfuhren, bestellte nun aber beim Zimmerservice eine heiße Suppe. Noch immer gab’s keinen Brandy. Nicht vor drei Uhr, sagten sie. Beim nächsten Mal, dachte ich, bringe ich mir ein paar Liter mit.
Champagner paßte allerdings nicht ganz zu der Nachricht, die ich ihr zu übermitteln hatte, weshalb ich ihn mit Orangensaft versetzte und sie erst einmal davon trinken ließ. Dann brachte ich ihr so schonend wie nur möglich bei, daß Bob zum Zeitpunkt seines Verschwindens gestorben war. Ich sagte ihr, daß Bob kein Dieb gewesen sei und sie nicht verlassen habe. Ich sagte ihr, daß er ermordet worden sei.
Ihr Gesicht nahm wieder diesen verzweifelten, zerbrechlichen Ausdruck an, aber sie wurde nicht ohnmächtig.
«Sie haben ihn. Sie haben ihn also gefunden?«
«Ja.«
«Wo. ist er?«
«Auf der Rennbahn.«
Sie stand auf, schwankte ein wenig.»Ich muß zu ihm.«
«Nein«, sagte ich bestimmt und hielt sie am Ellbogen fest.
«Nein, Emma, bitte nicht. Sie müssen ihn lebend in Erinnerung behalten. Er sieht jetzt nicht mehr so aus wie früher, und er würde bestimmt nicht wollen, daß Sie ihn so sehen. Er würde Sie bitten, das nicht zu tun.«
«Ich muß zu ihm. aber natürlich muß ich das.«
Ich schüttelte den Kopf.
«Wollen Sie sagen«- langsam dämmerte es ihr —»daß er. ganz schrecklich aussieht?«
«Leider ja. Er ist schon seit einem Monat tot.«
«O Gott.«
Ihre Knie wurden schwach, und sie setzte sich, fing an zu weinen. Ich berichtete ihr von dem Teich, den Seilen, dem Zement. Sie mußte es irgendwann erfahren, und es konnte nicht schlimmer sein als die Qualen der Ungewißheit, die sie vier Wochen lang durchlitten hatte.
«Mein armer Bob«, sagte sie.»O Liebling. mein Liebling.«
Die Schleusentore all dieses Elends öffneten sich, und sie weinte mit einer schrecklichen, eruptiven Intensität, aber schließlich und auch endlich war es ein normaler Schmerz, frei von allen Selbstzweifeln und demütigender Scham.
Noch immer vom Schluchzen geschüttelt, sagte sie nach einer
Weile:»Ich muß sehen, daß ich mein Zimmer im Hotel wiederbekomme.«
«Nein«, sagte ich.»Sie fliegen heute nach Hause, mit mir zusammen, so wie wir es geplant haben.«
«Aber ich kann doch nicht.«
«Doch, Sie können und Sie werden. Sie dürfen nicht hierbleiben. Sie müssen nach Hause zurück, sich ausruhen, wieder zu Kräften kommen und sich um das Baby kümmern. Die Polizei hier wird alles Notwendige veranlassen, und ich werde dafür sorgen, daß der Jockey Club und vielleicht auch der >Fonds für verletzte Jockeys< die Dinge bei uns drüben arrangieren. Wir können Bob schon bald nach England überführen lassen, wenn Sie das wünschen. Heute aber geht es einzig und allein um Sie. Wenn Sie hierbleiben, werden Sie krank werden.«
Sie hörte mir zu, bekam kaum die Hälfte mit, erhob aber auch keine Einwände mehr. Vielleicht wird die Polizei nicht gerade erfreut sein, wenn sie jetzt abreist, dachte ich, aber sie haben sie fast einen Monat lang hier gehabt, und es kann eigentlich nicht viel geben, was sie ihnen noch nicht erzählt hat.