Überall um mich herum waren hellgraue, nebelverhangene Höhen zu sehen. Das Ufer war nirgends besonders nahe — nach meiner Schätzung waren es etwa drei Kilometer bis dorthin, in welche Richtung ich auch blickte.
Wassertretend zog ich mir meine Sachen aus, wobei ich mich weiterhin verzweifelt nach Arne umsah und immer noch damit rechnete, daß ich ihn jeden Augenblick zu Gesicht bekommen würde.
Aber da war nichts als das aufgewühlte, klatschende Wasser. Ich dachte an die Schrauben der Motorjacht und an Arnes weitschäftige Gummistiefel, die sich innerhalb weniger Sekunden mit Wasser gefüllt haben mußten. Schließlich ging mir durch den Kopf, daß ich höchstwahrscheinlich an der Stelle, wo ich mich gerade befand, ertrinken würde, wenn ich Arnes Verschwinden nicht als gegeben hinnahm und mich in Richtung Ufer in Bewegung setzte.
Ich streifte die Schuhe von den Füßen und kämpfte mit dem Reißverschluß der Regenjacke. Dann riß ich die Knöpfe meines Jacketts auf und wand mich gleichzeitig aus beiden Jacken. Ich ließ sie los, aber dann fiel mir meine Brieftasche ein, und obwohl es mir verrückt vorkam, zog ich sie aus der Innentasche des Jacketts und schob sie unter mein Hemd.
Die beiden Jacken trieben noch eine Weile auf der Wasseroberfläche dahin und verschwanden dann, vollgesogen, aus meinem Blickfeld. Ich zog meine Hose aus und schickte sie den Jacken hinterher.
Ein Jammer, dachte ich. Das war ein schöner Anzug gewesen.
Das Wasser war wirklich sehr kalt. Ich schwamm los. In den Fjord hinein, Richtung Oslo. Wohin sonst?
Ich war dreiunddreißig Jahre alt und robust und hatte mehr Statistiken im Kopf, als mir lieb war. Ich wußte zum Beispiel, daß ein normaler Mensch in ein Grad kaltem Wasser keine Stunde überleben kann.
Ich versuchte, ohne Hast und mit langen, möglichst wenig kräftezehrenden Zügen zu schwimmen, um den Augenblick der Erschöpfung hinauszuzögern. Die Wassertemperatur im Oslofjord betrug nicht ein Grad über Null, sondern wenigstens fünf. Wahrscheinlich war das Wasser nicht sehr viel kälter als das, was in diesem Augenblick bei Brighton gegen den englischen Strand brandete. In fünf Grad kaltem Wasser konnte man. hm, diese statistische Angabe war mir nun doch nicht gegenwärtig, da mußte ich mich mit vagen Vermutungen begnügen. Aber man konnte wohl lange genug überleben, um etwas mehr als drei Kilometer zu schaffen.
Bruchstücke aus lange zurückliegenden Geographiestunden ergaben keinen Sinn.»Der Golfstrom erwärmt die Küste Norwegens. «Der gute alte Golfstrom. Wo war er nur hin?
Für mich war Kälte noch nie etwas Positives gewesen. Wahrscheinlich hatte ich noch niemals richtig gefroren, sondern immer nur gefröstelt. Diese Kälte hier grub sich tief in jede Muskelfaser und tat mir im Bauch weh. Meine Hände und Füße waren ohne Gefühl, meine Arme und Beine schwer. Die echten
Langstreckenschwimmer hatten eine schöne dicke, isolierende Fettschicht unter der Haut — ich nicht. Sie schmierten sich außerdem noch ordentlich mit wasserabweisender Fettcreme ein und schwammen neben Versorgungsbooten her, die sie auf Anforderung per Schlauch mit heißem Kakao versorgten. Natürlich schwammen echte Langstreckenschwimmer auch dreißig oder mehr Kilometer weiter als ich.
Ich schwamm.
Die Wellen kamen mir erschreckend hoch vor — ich konnte nur dann sehen, wohin ich schwamm, wenn ich Wasser trat und den Kopf hochreckte, was aber Zeit und Kraft kostete. Das Ufer, das am nächsten zu liegen schien, war für meine vom Salz brennenden Augen so weit entfernt wie eh und je. Und angeblich wimmelte doch der Oslofjord nur so von Schiffen und Booten. Ich konnte jedoch kein einziges entdecken.
Verdammt und zugenäht, dachte ich, ich habe nicht die Absicht zu ersaufen. Nein, ganz und gar nicht!
Ich schwamm.
Das Tageslicht schwand langsam dahin. Die See, der Himmel und die fernen Berge zeigten ein dunkleres Grau. Es fing an zu regnen.
Ich kam allem Anschein nach nur sehr langsam voran. Das Land, auf das ich zuhielt, schien mir immer gleich weit entfernt zu sein. Ich fragte mich, ob nicht vielleicht irgendeine Strömung jeden Meter, den ich vorwärtsschwamm, wieder aufhob — aber wenn ich mich umdrehte, konnte ich feststellen, daß das Land hinter mir doch immer weiter zurückblieb.
Ich schwamm ganz mechanisch, wurde langsam müde.
Die Zeit verging.
Plötzlich gingen vor mir, weit entfernt, in der immer tiefer werdenden Spätnachmittagsdämmerung stecknadelkopfgroße Lichter an. Jedesmal, wenn ich wieder hinsah, waren es mehr.
Die Stadt schaltete ihre abendliche Beleuchtung ein.
Zu weit weg, dachte ich. Für mich sind sie viel zu weit weg. Überall um mich herum Land und Leben, und ich kann es nicht erreichen.
Unter mir eine grauenvolle Tiefe. Und das, obwohl ich doch ganz und gar nicht schwindelfrei war!
Ein kalter, einsamer Tod, das Ertrinken.
Ich schwamm. Was sollte ich sonst auch tun.
Als etwas höher und ein Stück weiter links wieder ein Licht anging, dauerte es mindestens eine Minute, bis die dazugehörige Nachricht mein träges Gehirn erreicht hatte. Ich trat Wasser, wischte mir, so gut es gehen wollte, Regen- und Meerwasser aus den Augen und versuchte herauszukriegen, woher das Licht kam — und tatsächlich war sehr viel näher als bei meinem letzten Rundblick der solide, graue Umriß von Land zu erkennen.
Häuser, Lichter und Menschen. Alles da, dort irgendwo auf diesem Felsenbuckel.
Dankbar schwenkte ich fünfzehn Grad nach links und schwamm schneller, gab die sorgfältig aufgesparten Kraftreserven her wie ein reumütiger Geizhals. Und das war dumm von mir, denn vor mir lag kein sanft abfallender Strand. Als ich das kostbare Land erreicht hatte, zeigte sich, daß es ein glatter, senkrecht aus dem Wasser aufragender Felsen war. Nicht ein einziger vorspringender Stein, nicht eine Spalte — nichts, woran man sich festhalten und wenigstens kurz von der Anstrengung des Sich-über-Wasser-Haltens ausruhen konnte.
Der letzte halbe Kilometer war am schlimmsten. Ich konnte das Land zwar berühren, aber es bot nichts, woran ich mich hätte festklammern können. Es mußte irgendwo eine Bresche geben, wenn ich nur weit genug schwamm, aber ich war mit meinen Kräften so gut wie am Ende. Ich kämpfte mich matt durch die Wellen vorwärts und hatte dabei den undeutlichen Wunsch, ich könnte durch warmes, ruhiges Wasser gleiten wie
Mark Spitz, dann anschlagen und mich an einer schönen metallenen Stange festhalten, die Füße sicher auf dem Beckenboden. In Wirklichkeit aber machte ich wenig später eine Art Bauchklatscher auf eine schmale, von großen Felsbrocken gesäumte Bootsrampe.
Ich lag halb im Wasser, halb draußen, und rang nach Atem, der mir ganz ohne mein Wissen abhanden gekommen war. Meine Brust hob und senkte sich schnell. Ich hustete.
Es war nicht richtig dunkel, sondern es herrschte diese langsame nördliche Dämmerung. Es hätte von mir aus auch drei Uhr morgens sein können — der kalte, nasse Beton unter meiner Wange fühlte sich so warm und weich an wie ein Federkissen.
Oben knirschten in gleichmäßigem Rhythmus Schritte den Kai entlang, und dann war es plötzlich still.
Ich bemühte mich, den Kopf ein wenig anzuheben und mit einer abgestorbenen Hand matt zu winken.
«Hvem er der?« fragte eine Männerstimme. Oder so etwas Ähnliches.
Ich ließ eine Art von Krächzen hören, und da kam er, vorsichtig seitwärts gehend, die Bootsrampe herunter auf mich zu, eine gut eingepackte, wenn auch in der regennassen Düsterkeit nur verschwommen erkennbare Gestalt.
Er wiederholte seine Frage, die ich immer noch nicht verstand.
«Ich bin Engländer«, sagte ich.»Können Sie mir bitte helfen?«
Ein paar Sekunden lang geschah gar nichts. Dann ging der Mann fort.
Was soll’s, dachte ich. Zumindest von der Hüfte an aufwärts war ich sicher in Norwegen angekommen. Ich hatte einfach nicht die Energie, mich hinaufzuziehen, bis meine Füße aus dem Wasser waren, jedenfalls noch nicht gleich. Aber das wird schon noch kommen, dachte ich, nur mit der Ruhe.