Ich dankte ihm und legte auf. Dann rief ich bei der SAS an, die freundlich säuselte und sagte, selbstverständlich sei beim Flug um sechs Uhr dreißig noch ein Sitz für mich frei. Eine innere Stimme wollte mir unbedingt einreden, daß es auch am folgenden Morgen noch einen Flug gebe und Witwen dazu da seien, getröstet zu werden. Gut. Das mochte ja sein. Aber nicht diese, noch nicht.
Ich gab ihr einen Abschiedskuß.
«Besuchen Sie mich wieder«, sagte sie, und ich antwortete:
«Das werde ich.«
In Heathrow gab ich den Wagen ab, den ich am Morgen in Cambridge geliehen hatte, und zwängte mich beim letzten Aufruf in die Sechs-Uhr-dreißig-Maschine. Ich war ganz offensichtlich nicht in der Lage, etwas gegen die nervöse Spannung zu tun, die sich in mir aufbaute, als wir zur Landung in Oslo ansetzten, aber dann brachte mich ein harmloses Taxi in ereignisloser Fahrt zum Hotel, wo mich ein resignierter Empfangschef mein Zimmer selbst auswählen ließ.
Ich rief Erik an.
«Wo stecken Sie denn?«verlangte er zu wissen.
«Im Grand Hotel.«
«Du liebe Güte, sind Sie gar nicht geflogen?«
«Hin und wieder zurück.«
«Haben Sie herausbekommen.«
«Zum Teil. Ich weiß, was es ist, aber nicht, wem es gehört. Hören Sie. könnten Sie mir mal Knuts Privatnummer geben?«
Er sagte sie mir.»Wollen Sie wieder gefahren werden?«:
«Ich fürchte, ja. Wenn Sie’s über sich bringen?«
«Sie können auf mich zählen«, sagte er.
Ich rief Knut an, der gähnte und meinte, er sei gerade vom Dienst gekommen und müsse erst am nächsten Tag um zwei Uhr wieder hin.
«Kennen Sie Lillehammer?«fragte ich.
«Ja, natürlich.«
«Was ist das für ein Ort?«
«Wie meinen Sie das? Es ist eine große Stadt. Im Sommer Touristen- und im Winter Skiort. Im Oktober und November fährt da niemand hin.«
«Wenn Sie sich heimlich mit jemandem in Lillehammer treffen wollten, irgendwo nicht zu weit vom Bahnhof entfernt, wo man einigermaßen leicht zu Fuß hinkommt, wo würden Sie dann hingehen?«
«Kein öffentlicher Ort?«
«Nein, irgendein stilles Plätzchen.«
Es war eine Weile still. Dann sagte er:»Es wäre vielleicht besser, die Stadt zu verlassen. In Richtung See. Da gibt es eine Straße, die zu der Brücke über diesen See führt. Es ist die Hauptstraße nach Gj0vik, aber da herrscht nicht viel Verkehr, und es gibt ein paar kleine Nebenstraßen, die zu den Häusern am
Seeufer hinführen. Suchen Sie so etwas?«
«Klingt sehr gut.«
«Mit wem wollen Sie sich denn treffen?«
Ich erzählte es ihm mit einiger Ausführlichkeit, und mitten in meiner Erklärung mußte er seine Müdigkeit abgeschüttelt haben, denn als er wieder sprach, klang seine Stimme wach, ja geradezu eifrig.
«Ah, ich verstehe. Ja, ich werde alles arrangieren.«
«Dann sehen wir uns morgen früh.«
«Ja. Einverstanden. Und. äh. passen Sie gut auf sich auf, David.«
«Worauf Sie sich verlassen können«, sagte ich.
Ich rief noch einmal Erik an, der natürlich sehr gern zum Frühstück ins Hotel kommen, mich zu Knuts Büro bringen und so rechtzeitig zum Bahnhof fahren wollte, daß ich den ZehnUhr-Zug nach Liliehammer nicht verpassen würde.
«Ist das alles?«
«Nein. Würden Sie mich auch wieder vom Bahnhof abholen, wenn ich zurückkomme? Halb fünf, glaube ich.«
«Wird gemacht. «Er klang fast enttäuscht.
«Bringen Sie einen Schlagring mit«, sagte ich, und das munterte ihn wieder auf.
Als nächstes Lars Baltzersen.
«Selbstverständlich habe ich schon von dieser Gesellschaft gehört«, sagte er.»Ihre Aktien boomen. Ich habe selbst ein paar gekauft, und sie zeigen schon einen ordentlichen Gewinn.«
«Kennen Sie sonst noch jemanden, der welche gekauft hat, solange der Preis niedrig war?«
Er schwieg einen Moment, dann sagte er:»Rolf Torp hat gekauft. Ich glaube, es war Rolf, der mich auf sie aufmerksam gemacht hat, aber ich bin nicht ganz sicher. «Er räusperte sich.
«Mir sind jedoch beunruhigende Gerüchte zu Ohren gekommen, daß die wirklich großen Käufer irgendwo im Nahen Osten sitzen. Man weiß nichts Genaues. Da ist viel Geheimniskrämerei im Spiel, aber es scheint nicht ausgeschlossen.«
«Warum ist das beunruhigend?«fragte ich, und er sagte es mir.
Zum Schluß rief ich noch bei Arne an. Kari war am Apparat, und ihre Stimme klang warm, belustigt und voller Erinnerung an unser letztes Zusammensein.
«Hab dich seit Freitag nicht mehr gesehen«, sagte sie.»Warum kommst du nicht morgen zum Abendessen zu uns?«
«Würde ich gern, aber ich kann wahrscheinlich nicht.«
«Oh. Tja. was macht der Fall?«
«Darüber hatte ich eigentlich mit Arne sprechen wollen.«
Sie sagte, sie werde ihn holen, und wenig später meldete er sich. Er klang, als freute er sich über meinen Anruf.
«David. ich hab dich ja schon seit Tagen nicht mehr gesehen«, sagte er.»Was hast du getrieben?«
«Herumgestöbert«, antwortete ich.»Hör mal, Arne, ich hab dabei ein bißchen Glück gehabt. Ein Mann in Lillehammer hat bei mir angerufen und gesagt, er könne mir etwas über den Mord an Bob Sherman mitteilen. Er meinte, er hätte den Mord so gut wie mit eigenen Augen gesehen. Er wollte am Telefon nicht mehr sagen, aber ich will mich morgen mit ihm treffen. Die Sache ist die. ich habe mich gefragt, ob du nicht Lust hättest mitzukommen. Deine Begleitung wäre mir lieb, wenn du die Zeit erübrigen kannst. Das Englisch dieses Mannes war nicht allzugut. du könntest also für mich dolmetschen, wenn’s dir recht wäre.«
«Morgen?«
«Ja. Ich fahre mit dem Zug um zehn.«
«Wo willst du dich denn in Lillehammer mit dem Mann treffen?«
«Auf der Straße nach Gj0vik, unten bei der Brücke über den See. Er will zur Mittagszeit dort sein.«
Arne meinte zögernd:»Na ja, ich könnte schon.«
«Bitte, komm doch mit, Arne«, sagte ich.
Er faßte einen Entschluß.»Gut, ich komme mit. Wohnst du noch im Grand Hotel?«
«Ja«, antwortete ich.»Aber von dir aus hast du’s zum Bahnhof näher. Wir treffen uns dort.«
«Gut. «Er zögerte wieder.»Ich hoffe nur, das ist nicht irgend so ein Verrückter, der sich Geschichten aus den Fingern saugt.«
«Das hoffe ich auch.«
Bevor ich schlafen ging, schob ich mein Bett direkt vor die Zimmertür, aber niemand versuchte hereinzukommen.
Erik hatte wieder Odin mitgebracht, auf daß er ihm bei seinen Bewachungspflichten helfe, obwohl ich inzwischen dank unserer längeren Bekanntschaft wußte, daß das wilde Aussehen der Dogge nur Fassade war. In dem sandfarbenen Fell steckte ein richtig großer Softy.
Aber die beiden brachten mich sicher zum Polizeipräsidium, wo uns Knut erwartete, der schon fünf Stunden vor Beginn seiner nächsten Schicht putzmunter war. Ich übergab ihm oben in seinem Büro die geologische >Karte< des Bohrkerns, die er neugierig betrachtete.
«Verlieren Sie die bloß nicht«, sagte ich.
Er lächelte.»Dann schon eher mein Leben, was?«
«Lassen Sie sie fotokopieren?«
Er nickte.»Jetzt gleich.«
«Also dann bis heute abend.«
Wir gaben uns die Hand.
«Seien Sie vorsichtig«, sagte er.
Als ich mir die Fahrkarten kaufte und zur Sperre ging, blieben Erik und Odin an meiner Seite. Es war der schlimmste Vormittag, den meine Nerven bis jetzt zu überstehen hatten, und ich übertraf Arne schon im Über-die-Schulter-Schauen. Heute abend, dachte ich grimmig, werde ich entweder in Sicherheit oder tot sein. Bis dahin schien es noch schrecklich lange hin zu sein.
Arne war schon auf dem Bahnsteig und begrüßte mich mit einem strahlenden Lächeln.»Welche Nummer hat deine Fahrkarte?«fragte er.