«Ich werde zu ihr gehen«, sagte ich, und er beschrieb mir den Weg.
Der Weg zum Haus der >Berit am See< entpuppte sich als schmaler Pfad, der zwischen den Bahngleisen und dem Seeufer entlangführte — es war eher eine sich zwischen Felsblöcken hindurchschlängelnde Spur aus kleinen Steinen und Kieseln als ein erkennbarer, ausgetretener Weg. Da seine Unebenheiten auch noch mit Harsch bedeckt waren, fiel es nicht schwer, sich vorzustellen, wie er, wenn es erst einmal richtig schneite, vollkommen verschwand.
Kapitel 17
Ich sah zurück.
Eine Biegung des Pfades hatte Finse meinen Blicken entzogen.
Ich sah wieder nach vorn. Nichts als der angedeutete Pfad, der sich kaum erkennbar zwischen den schneebedeckten Felsblöcken hindurchwand. Nur zu meiner Rechten konnte ich Anzeichen menschlichen Daseins entdecken, nämlich die Eisenbahnschienen. Aber dann verschwanden selbst die hinter einem Hügel. Das Ufer des Sees machte einen Bogen nach links, so daß schließlich nur noch ich und die kahle, unversöhnliche Landschaft da waren — nur noch ich, der ich mich an einem kalten, wilden und einsamen Nachmittag gegen einen starken Wind vorankämpfte.
Der Pfad schlängelte sich um zwei Buchten und zwei Landzungen, und je weiter ich kam, desto steiler stieg der Berghang zu meiner Rechten in die Höhe. Und dann lag ganz plötzlich das Haus vor mir, stand für sich allein auf einer ebenen, steinigen Fläche, die wie eine Vorbühne bis in den See hineinreichte.
Das Haus war rot gestrichen. In einem kräftigen Karmesinrot. Dach, Wände, Tür, alles. Die Farbe hob sich scharf von dem Grau und Weiß des Strandes und dem Graugrün des Wassers ab. Hinter dem Haus, am Ende des Sees, ragten dunkle Klippen in die Höhe, als sei da vor dem nördlichen Himmel plötzlich ein neuer Berg aufgeworfen worden.
Vielleicht war dies ja ein großartiger, außergewöhnlicher, ehrfurchtgebietender Anblick. Vielleicht hätte er meinen Geist beflügeln und meine Seele erheben sollen. Aber er löste in mir nichts Erhabeneres aus als den lebhaften Wunsch, den Rückzug antreten zu können.
Ich blieb stehen.
Selbst wenn Sandvik seinen Sohn dringend hätte verstecken wollen, hätte er ihn doch wohl kaum an diesen bedrohlichen Ort geschickt. Sicher war Mikkel jetzt schon über alle Berge, einen hinterherhechelnden Arne als Aufpasser im Schlepptau.
Verdammt albern, an dieser Stelle ein Haus zu bauen, dachte ich. Mit so einem Berg direkt vor der Tür, da mußte man ja eine Gänsehaut kriegen.
Ich ging weiter. Das Haus hatte einen eigenen Landungssteg, wo ein Motorboot an einem Pfahl festgemacht war wie ein Pferd in einem Western. Es gab auch geraffte Spitzengardinen und Geranien auf den Fensterbrettern. Natürlich rote Geranien.
Ich hielt vergeblich nach Schornsteinrauch Ausschau, und als ich noch näher herankam, spähte niemand zu mir heraus.
Ich betätigte den Türklopfer. Die Tür wurde augenblicklich von einer alten Frau geöffnet, die sich so gerade hielt, als hätte sie einen Stock verschluckt. Sie war einssechzig groß, hatte wachsame Augen und wirkte vollkommen selbstsicher. Weit, noch sehr weit vom Tod entfernt.
«Ja?«sagte sie fragend.
«Ich würde gern Mikkel sprechen«, sagte ich.
Sie brauchte einen kurzen Augenblick, um in die andere Sprache zu wechseln, und fragte dann mit einem fast reinen schottischen Akzent:»Wer sind Sie?«
«Ich suche Mikkel.«
«Alle Welt sucht Mikkel. «Sie betrachtete mich von oben bis unten.»Kommen Sie herein. Es ist kalt.«
Sie führte mich ins Wohnzimmer. Offensichtlich war sie gerade dabei, alles dort in Kisten einzupacken. Sie machte mit einer feingliedrigen Hand eine ausholende Geste.»Ich bin im Aufbruch. Im Sommer ist es sehr schön hier, aber nicht im Winter.«»Ich habe eine Nachricht von seinem Vater«, sagte ich.
«Noch eine?«
«Wie meinen Sie das?«
«Heute morgen ist schon ein Mann gekommen. Dann noch einer. Beide behaupteten, sie brächten eine Nachricht von seinem Vater. Und jetzt Sie. «Sie sah mir direkt in die Augen.»Das sind recht viele Nachrichten.«
«Ja. aber ich muß ihn finden.«
Sie legte den Kopf schief.»Ich habe es den anderen gesagt. Ich kann nicht beurteilen, wem ich es nicht sagen sollte. Deshalb sage ich es auch Ihnen. Er ist oben auf dem Berg.«
Ich sah durchs Fenster auf die Felswand und das Ende des Sees.
«Dort oben?«
«Ja. Dort oben steht eine Hütte. Im Sommer vermiete ich sie an Urlaubsgäste, aber im Winter ist sie von Schnee bedeckt. Mikkel ist heute morgen hinaufgestiegen, um die Sachen zu holen, die ich nicht gern oben lasse. Er ist ein netter Junge.«
«Wer waren die beiden anderen Männer, die hergekommen sind?«
«Das weiß ich nicht. Der erste sagte, er heiße Arne Kristiansen. Beide meinten, sie würden hinaufgehen und Mikkel dabei helfen, die Sachen herunterzuschaffen, obwohl ich ihnen gesagt habe, daß es nicht nötig sei. Es ist ja nicht viel, und er hat den Schlitten mitgenommen.«
«Den Schlitten?«
«Ja, so ein ganz leichter. Man kann ihn gut ziehen.«
«Vielleicht sollte ich lieber auch hinaufsteigen.«
«Sie tragen die falschen Schuhe.«
Ich sah auf sie hinunter. Stadtschuhe, Slipper, nicht für schneebedeckte Berge gemacht, und an den Rändern schon
dunkel von Nässe.
«Ist nicht zu ändern«, sagte ich.
Sie zuckte die Achseln.»Ich zeige Ihnen den Weg. Er ist besser als der um den See herum. «Sie lächelte schwach.»Ich gehe nie zu Fuß nach Finse. Ich fahre mit dem Boot.«
«Der zweite Mann«, sagte ich.»Hatte der außergewöhnliche, gelbe Augen?«
«Nein. «Sie schüttelte mit Entschiedenheit den Kopf.»Der sah ganz normal aus. War sehr höflich. Wie Sie. «Sie lächelte und zeigte durchs Fenster.»Der Pfad fängt dort drüben hinter dem großen Felsen an. Er ist nicht steil. Er windet sich vom See weg und dann wieder zu ihm hin. Sie werden ihn leicht finden.«
Ich dankte ihr, machte mich auf den Weg und merkte sofort, daß sie, was meine Schuhe anging, recht gehabt hatte. Der Weg war leicht zu finden, ja, aber vor allem deshalb, weil er eine gut ausgetretene Spur durch den Schnee darstellte — eine Art Minischnellstraße, die auf beiden Seiten von Skispuren gesäumt wurde.
Ich schlidderte in dem kalten Wind dahin, arbeitete mich in einem weiten, U-förmigen Bogen den Berghang hinauf. Es war aber nicht so weit, wie ich befürchtet hatte. Viel früher als erwartet, gelangte ich auf den Gipfel einer kleinen Anhöhe und erblickte unter mir, plötzlich nur noch ein paar Schritte entfernt, eine solide, in traditioneller norwegischer Bauweise errichtete kleine Blockhütte — eine Schachtel mit Dach, die auf einem etwas kleineren Sockel stand.
Es war schon zu spät, um sich der Hütte noch vorsichtig und unauffällig zu nähern. Ich war da, wo ich stand, von einem kleinen Fenster aus gut zu sehen, weshalb ich einfach hinging und durch die Scheibe hineinspähte.