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In seiner Stimme lag tiefer Schmerz.

«Er hatte mich vergessen. Mich ganz vergessen.«

Er war bemüht, nicht in Tränen auszubrechen.

«Mein Vater«, sagte er.»Mein Vater hat Bob Sherman umgebracht.«

Kapitel 18

Bei Tagesanbruch gingen wir nach Finse hinunter — Mikkel glitt auf seinen Skiern leicht dahin, während ich in meinen Slippern nur knirschend und rutschend vorankam. Ähnlich waren wir uns nur darin, daß ich wie er blaugraue Ringe um die Augen, Vertiefungen an den Mundwinkeln und insgesamt das Aussehen eines äußerst müden Menschen hatte. Mikkel hatte in der Nacht nicht mehr viel gesagt. Irgendwann hatte er seinen Kopf an meine Schulter gelegt und war erschöpft eingeschlafen, doch früh am Morgen, als er aufgewacht war, hatte er ruhig und unbeschwert gewirkt, so als hätte ihn das Sprechen über das Grauen, mit dem er acht lange Wochen gelebt hatte, auf stille Weise davon befreit.

Ich ließ ihn bei den warmherzigen, tröstlich wirkenden Bewohnern von Finse und bestieg noch einmal in Begleitung einiger Männer des Ortes den Berg. Diesmal hatte auch ich Skier an den Füßen und schurrte laienhaft den Hang hinauf. Oben warteten die Männer auf mich und machten Scherze. Sie hatten fröhliche Gesichter und ein sorgloses Lächeln. Und die Sonne kam fahl hinter den Wolken hervor — es war das erste Mal, daß ich sie hier in Norwegen zu Gesicht bekam.

Wir erreichten die Hütte und liefen an ihr vorbei bis zu jenem Punkt, wo sich der Pfad in einer ebenen Schneefläche verlor. Zwei der Männer zogen einen Schlitten, ein gewichtsloses Gefährt, das auf skiähnlichen Kufen leicht dahinglitt. Grad so einer, wie ihn die alte Berit habe, sagten sie.

Braunauge lag mit dem Gesicht nach unten im Schnee.

Tot.

Aber er war nicht an den Schußverletzungen gestorben, jedenfalls nicht in erster Linie. Schutzlos der Kälte ausgesetzt,

war er erfroren.

Die Männer aus Finse betrachteten schweigend die Spur, die von der Leiche wegführte. Braunauge hatte sich kriechend bis zu dieser Stelle geschleppt. Der Schnee war da, wo er entlanggekrochen war, von seinem Blut dunkel gestreift.

Sie wickelten den Toten in Segeltuch, legten ihn auf den Schlitten und machten kehrt, um ihn nach Finse hinunterzubringen.

«Ich gehe mal da rauf«, sagte ich und zeigte in die Richtung, aus der Braunauge gekommen war.

Sie nickten, beratschlagten kurz und gaben mir einen Mann mit, weil sie meinen nur ansatzweise vorhandenen skiläuferischen Fähigkeiten nicht trauten.

Wir folgten der blutfleckigen Spur den Hang hinauf bis zu einer Art Hochebene, deren ferner Rand sich als glatter Horizont vom blaßgrauen Himmel abhob. Die Spur endete in einem Gewirr anderer Spuren, die der Mann aus Finse schnell zu deuten vermochte.

«Hier wurde er angeschossen. Sehen Sie das Blut. Da war noch ein anderer Mann bei ihm. «Mein Begleiter zeigte auf eine Skispur, die durch den ansonsten unberührten Schnee von uns wegführte.»Dieser Mann ist ein erfahrener Langläufer. Er ist schnell gelaufen. Er hat den anderen verletzt im Schnee liegenlassen. Er hat keine Hilfe geholt. Hätte er das getan, hätte er der Blutspur folgen können.«

Gelbauge war einfach auf und davon. Aber Knut würde ihn schon noch finden.

«Die beiden Männer sind auf ihren Skiern schnell und leicht bis hierher gekommen«, sagte mein Führer und deutete auf Skispuren, die quer durch die Hochebene führten.

«Da drüben sind noch mehr Spuren«, fügte er hinzu und zeigte mit einer dick verpackten Hand nach rechts.

«Sehen wir uns die mal an«, meinte ich.

Wir liefen hin.

«Zwei Männer«, sagte er,»die einen beladenen Schlitten gezogen haben.«

Obwohl ich es erwartet hatte, war es doch wie ein Schlag in die Magengrube.

«Sie sind von dort gekommen«, sagte ich und zeigte in Richtung der Hütte.

Er nickte. Wir verfolgten die Fährte zurück, bis wir neben ihr Spuren von Mikkels Skiern fanden.

«Der Junge ist bis hierher gekommen. Und dann stehengeblieben. Dann hat er kehrtgemacht und ist zur Hütte zurück. Sie können an seiner Spur erkennen, daß er auf dem Weg herauf unruhig war. Und in Panik, als er umkehrte. Sehen Sie sich nur mal die Tiefe an, die Schärfe des Abdrucks und die kleinen Schritte.«

«Vielleicht können wir die Patronenhülsen noch finden«, sagte ich.

Er nickte. Wir suchten eine Weile und fanden sie tatsächlich — zwei leuchtend orangefarbene Röhrchen im Schnee.

«Und jetzt. «Ich deutete auf die Spuren vor uns, denen Mikkel gefolgt war — die Spuren von zwei Männern und einem beladenen Schlitten.

Sie führten schnurgerade über die kleine Hochebene auf den Horizont zu. Wir folgten ihnen.

Der Horizont aber war, wie sich herausstellte, nicht das Ende der Welt, sondern der Kamm des Berges. Der Hang auf der anderen Seite war steil und kurz, er endete an einer scharfen Kante, hinter der sich ein weiter Ausblick auf schneebedeckte Gipfel öffnete. Wir standen auf den Felsenklippen, die hinter Berits Haus aus dem See aufragten.

Die Spuren der beiden Männer führten bis zum Bergkamm und von dort zurück.

Die Spur des Schlittens ging geradeaus weiter bis zum Rand des Abhangs.

«Ich möchte da runter«, sagte ich und öffnete die Bindungen meiner Skier.

Mein Führer mochte den Gedanken gar nicht, wickelte aber das um die Taille mitgeführte Seil ab. Er band mich daran fest, und ließ dann, stämmig und fest oben auf dem Kamm stehend, Meter um Meter durch seine Hände gleiten.

Ich stieg in meinen geliehenen Stiefeln langsam abwärts. Der Schnee war erstaunlich glatt, und ich mußte sehr aufpassen, daß ich nicht abrutschte. Außerdem mußte ich mich noch darauf konzentrieren, daß mir nicht schwindlig wurde — mit dem üblichen mäßigen Erfolg. Als ich schließlich am Rand des Abhangs stand, konnte ich den gesamten See und auf der linken Seite, tief unter mir, Berits Haus als dunkelroten Farbfleck erkennen.

Die Eindrücke der Kufen neben mir sahen flach und glatt aus, deuteten auf hohe Geschwindigkeit hin. Und sie führten gnadenlos weiter geradeaus, hinein in den offenen Raum.

Vor mir stürzte der Felsen zweihundert Meter senkrecht in die Tiefe. Unten war das sich kräuselnde grüne Wasser des Sees zu sehen. Sonst nichts. Gar nichts.

Arne, dachte ich. Fliegt auf einem Schlitten durch die Luft, stürzt hinab in den Tod.

Arne. der sich das eine Mal, wo der Feind tatsächlich dagewesen war, nicht umgeschaut hatte.

Arne, mein treuloser Freund.

Ich hätte schwören können, daß die gewaltigen Akkorde Beethovens um den schneebedeckten Felsen tosten und vom Wind aufgenommen wurden.