«Woher wissen Sie das?«
«Er würde so etwas einfach nie tun. «Sie sagte das mit Überzeugung, aber ich fragte mich doch, ob nicht vielleicht der Mensch, den sie mehr als alle anderen überzeugen wollte, sie selbst war.
Ein Zimmerkellner klopfte und brachte ein Tablett herein, und Emma fühlte sich gestärkt genug, um sich zum Essen an den Tisch zu setzen. Sie fing langsam an, noch immer schwach, aber am Ende war nur allzu klar, daß sie einen Bärenhunger gehabt hatte.
Als sie auch das letzte Krümelchen Brot aufgegessen hatte, sagte ich:»In ungefähr drei Stunden gibt’s Abendessen.«
«O nein!«
«O doch. Warum nicht? Dann haben Sie viel Zeit, mir von Bob zu erzählen. Viele Stunden. Brauchen sich nicht zu hetzen.«
Ihr Blick verriet, daß sie wieder anfing, klar zu denken. Gleich darauf schaute sie sich im Zimmer um. Die Erkenntnis, daß sie sich in meinem Schlafzimmer befand, zuckte wie Wetterleuchten über ihr Gesicht. Ich lächelte.»Würden Sie das Kittchen vorziehen? Sie und ich sitzen uns am Tisch des Besucherzimmers gegenüber?«
«Oh! Ich. nein, wohl nicht. «Sie schauderte leicht.»Davon habe ich schon ziemlich reichlich genossen, in gewisser Weise. Alle waren durchaus nett zu mir, wirklich, aber sie glauben, daß Bob das Geld gestohlen hat, und behandeln mich, als sei mein Mann ein Gauner. Es ist. ziemlich furchtbar.«
«Das kann ich nachvollziehen«, sagte ich.
«Wirklich?«
Das Essen hatte ihre Blässe nicht behoben. Die Augen waren immer noch eingesunken und schwarz untermalt, die
Anspannung zitterte noch in ihr nach. Es würde mehr als Suppe und Champagner nötig sein, um die Verkrampfung zu lösen.
«Warum machen Sie nicht ein Schläfchen?«schlug ich vor.»Sie sehen sehr müde aus. Hier geschieht Ihnen nichts, und ich muß dringend ein paar Berichte schreiben. Ich wäre froh, wenn ich sie hinter mich bringen könnte.«
«Ich kann nicht schlafen«, sagte sie ganz automatisch, aber als ich entschlossen Papiere aus meiner Aktentasche holte, sie auf dem Tisch ausbreitete und eine helle Lampe anknipste, um besser lesen zu können, erhob sie sich vom Bett, stand eine Weile unschlüssig da und legte sich dann wieder hin. Nach fünf Minuten sah ich nach, und da schlief sie schon fest — mit eingefallenen Wangen und von blaßblauen Äderchen durchzogenen Augenlidern.
Sie trug einen kamelhaarfarbenen Mantel, den sie — soweit hatte sie sich immerhin entspannt — aufgeknöpft hatte, und darunter ein braun und weiß kariertes Kleid. Jetzt, wo ihr Mantel offen war, konnte man die Wölbung ihres Bauches deutlich erkennen. Fünf Monate, dachte ich, plus minus eine Woche oder zwei.
Ich schob die Papiere wieder zusammen und steckte sie in die Aktenmappe zurück. Es handelte sich dabei um die verschiedenen Aussagen und Darlegungen zum Verschwinden von Emmas Mann, und darüber mußte ich gar keine Berichte schreiben. Statt dessen setzte ich mich in einen der bequemen Sessel des Grand Hotels und sann über die Frage, warum Männer verschwinden.
Im großen und ganzen war es wohl so, daß sie vor etwas fortliefen oder zu etwas hin — gelegentlich war es auch eine Verbindung von beidem. Von einer Frau fort, zu einer anderen hin. Vor der Polizei fort, in den sonnigen Süden. Weg von Unterdrückung, hin zur Freiheit der Wahl. Flucht vor Erpressung, Flucht in die Anonymität.
Manchmal nahmen sie das Geld eines anderen mit, um damit ihre Zukunft zu finanzieren. Auf den ersten Blick schienen Bob Shermans sechzehntausend Kronen weit weniger wert zu sein als das, was er dafür hergegeben hatte. Er verdiente schließlich im Jahr fünfmal soviel.
Wo also war er hingelaufen?
Oder wovor weg?
Und wie sollte ich ihn bis Montag nachmittag finden?
Emma Sherman schlief über zwei Stunden lang sehr fest und hatte friedliche Träume. Dann folgte jedoch eine quälende Phase. Sie bewegte sich ruhelos hin und her, und Schweiß trat ihr auf die Stirn, weshalb ich schließlich ihre Hand berührte und sie aus ihren Träumen riß.
«Emma! Aufwachen! Wachen Sie auf, Emma.«
Sie öffnete die Augen schnell und weit, sah die Alptraumbilder noch vor sich. Sie fing an zu zittern.
«Oh!«sagte sie.»O Gott.«
«Ist schon gut. Sie haben nur geträumt. Es war ein Traum.«
Sie kam langsam zu sich, war aber weder beruhigt noch getröstet.
«Ich habe geträumt, er säße im Gefängnis. da waren Gitterstäbe. und er versuchte rauszukommen. ganz verzweifelt. und ich fragte ihn, warum er denn raus wolle, und er antwortete, sie würden ihn am Morgen hinrichten. Und dann sprach ich mit einem der Verantwortlichen und fragte, was er denn getan hätte und warum sie ihn hinrichten wollten, und dieser Mann sagte. Bob hätte die Rennbahn gestohlen. und nach dem Gesetz müßten Leute, die Rennbahnen stehlen, hingerichtet werden.«
Sie fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.
«Es ist ja albern«, sagte sie,»aber es kam mir alles ganz wirklich vor.«
«Schrecklich«, sagte ich.
Trostlos wiederholte sie ihre Fragen:»Aber wo ist er? Warum schreibt er mir nicht? Wie kann er nur so grausam sein?«
«Vielleicht wartet zu Hause ein Brief auf Sie?«
«Nein. Ich rufe dort an. jeden Tag.«
Ich sagte:»Sind Sie. ja. also, sind Sie beide eigentlich glücklich?«
«Ja«, antwortete sie mit Bestimmtheit, aber nach einem Schweigen von fünf Sekunden kam die zutreffendere Version dahergehumpelt:»Manchmal gibt’ s auch Krach. Wir hatten zum Beispiel einen an dem Tag, an dem er hergeflogen ist. Den ganzen Vormittag. Und das wegen einer solchen Kleinigkeit. bloß weil er eine Nacht weggeblieben war, ohne daß es nötig gewesen wäre. Ich hatte mich nicht sehr gut gefühlt, und ich sagte ihm, er sei selbstsüchtig und gedankenlos. und er verlor die Beherrschung und sagte, ich sei verdammt noch mal zu anspruchsvoll. und ich sagte, dann würde ich eben nicht mit nach Kempton fahren, und er schwieg und schmollte, weil er dort bei dem großen Rennen den Favoriten ritt, und er hat mich nach so etwas immer gern um sich, weil ihm das hilft, sich wieder zu entspannen. «Sie starrte auf einen vergangenen Augenblick zurück, den ungeschehen zu machen sie alles gegeben hätte.»Da ist er dann allein losgefahren. Und von dort nach Heathrow zum Flug um halb sieben nach Oslo, wie üblich. Üblich war sonst aber auch, daß ich ihn hinbrachte, um mich dort von ihm zu verabschieden und dann das Auto mit nach Hause zu nehmen.«
«Und im Normalfall holten Sie ihn dann am Sonntagabend wieder ab?«
«Ja. Als er an jenem Sonntag nicht zur üblichen Zeit zurückkam, war ich ganz krank vor Angst, er könnte in Norwegen gestürzt sein und sich verletzt haben, und da rief ich Gunnar Holth an. aber der sagte mir, Bob wäre nicht gestürzt, sondern hätte einen Sieg herausgeritten und in zwei anderen Rennen eine gute Plazierung erreicht. und soweit ihm bekannt sei, hätte Bob auch das Flugzeug bekommen, wie geplant. Also rief ich noch einmal den Flughafen an. ich hatte dort vorher schon einmal angerufen, und man hatte mir gesagt, das Flugzeug sei planmäßig gelandet. und bat um eine Überprüfung, und sie sagten, auf der Passagierliste stünde kein Sherman. «Sie hielt inne, schwieg eine Weile und fuhr dann in einem neuerlichen Anfall von Kummer fort:»Er muß doch gewußt haben, daß ich es nicht so gemeint habe? Ich liebe ihn. er würde mich doch nicht ohne ein Wort einfach verlassen?«
Wie es aussah, hatte er genau das getan.
«Wie lange sind Sie schon verheiratet?«
«Fast zwei Jahre.«
«Kinder?«
Sie sah auf die braun-weiß karierte Wölbung und deutete mit einem nervösen Zucken ihrer zarten Finger darauf.»Das ist unser erstes.«
«Ihre finanzielle Lage?«
«Och, eigentlich ganz gut.«
«Wie eigentlich?«
«Er hatte im vergangenen Jahr eine gute Saison. Wir konnten etwas sparen. Natürlich legt er Wert auf gute Anzüge und ein flottes Auto. aber das tun doch alle Jockeys, oder nicht?«