»Bravo, Céleste!« ruft Sylvie. »Mama, mir reicht's«, murrt Théophile. Es ist fünf Uhr. Das Läuten, das mir sonst so freundschaftlich erscheint, bekommt etwas von einer Totenglocke, weil es den Augenblick der Trennung verkündet.
Der Wind bringt ein bißchen Sand zum Fliegen. Das Meer hat sich so weit zurückgezogen, daß die Badenden nur noch winzige Punkte am Horizont sind. Vor der Rückfahrt wollen sich die Kinder am Strand austoben, und Sylvie und ich bleiben allein. Schweigend drückt sie meine leblosen Finger. Hinter ihrer dunklen Brille, die einen wolkenlosen Himmel spiegelt, weint sie leise über unser aus den Fugen geratenes Leben.
In meinem Zimmer treffen wir uns für die letzten Gefühlsbezeigungen. »Wie geht's dir, mein Freund?« Dem Freund ist die Kehle zugeschnürt, er hat Sonnenbrand auf den Händen, und sein Steißbein ist vom zu langen Sitzen im Rollstuhl zu Brei geworden, aber er hatte einen wunderbaren Tag. Und ihr, ihr Jungen, welche Erinnerung werdet ihr an diese Ausflüge in meine unendliche Einsamkeit bewahren?
Sie sind weg. Das Auto muß schon auf Paris zurasen. Ich versenke mich in die Betrachtung einer Zeichnung von Céleste, die gleich an der Wand aufgehängt wurde. Eine Art Fisch mit zwei Köpfen, von blauen Wimpern gesäumten Augen und bunten Schuppen. Das Interessante an der Zeichnung sind nicht diese Einzelheiten, sondern ihre Form, die auf verwirrende Weise dem mathematischen Symbol für Unendlich entspricht.
Die Sonne strömt zum Fenster herein. Um diese Zeit fallen ihre blendenden Strahlen genau auf das Kopfende meines Bettes. In der Rührung des Abschieds habe ich vergessen, ihnen ein Zeichen zu geben, den Vorhang zuzuziehen. Vor dem Ende der Welt wird schon noch ein Pfleger vorbeikommen.
Paris
Ich entferne mich. Langsam, aber sicher. So wie der Seemann auf einer Überfahrt die Küste verschwinden sieht, von der er aufgebrochen ist, fühle ich meine Vergangenheit verschwimmen. Mein früheres Leben brennt noch in mir, wird aber mehr und mehr zur Asche der Erinnerung.
Seit ich an Bord meiner Taucherglocke untergebracht bin, habe ich trotzdem zwei Blitzreisen nach Paris in eine Klinik gemacht, um die Meinungen der medizinischen Koryphäen einzuholen. Beim ersten Mal hat mich Rührung überwältigt, als der Krankenwagen zufällig an dem ultramodernen Gebäude vorbeifuhr, in dem ich früher mein verwerfliches Gewerbe als Chefredakteur einer berühmten Frauenzeitschrift ausübte.
Zuerst habe ich das Nachbargebäude erkannt, eine Antiquität aus den sechziger Jahren, dessen bevorstehenden Abriß ein Schild ankündigte, dann unsere ganz verspiegelte Fassade, in der sich Wolken und Flugzeuge reflektierten. Davor liefen ein paar dieser vertrauten Gestalten herum, denen man zehn Jahre lang täglich begegnet, ohne ihren Namen zu kennen. Ich verrenkte mir den Hals, um zu sehen, ob ein bekannteres Gesicht dabei war, hinter der Dame mit dem Knoten und dem stämmigen Kerl im grauen Kittel. Das Schicksal hat es nicht gewollt. Vielleicht hat jemand von den Büros im fünften Stock aus meine Karosse vorbeifahren sehen? Ich habe einige Tränen vor der Bar vergossen, in der ich manchmal das Stammessen aß. Ich kann ziemlich diskret weinen. Dann sagt man, mein Auge träne.
Bei meiner zweiten Fahrt nach Paris, vier Monate später, war ich fast gleichgültig geworden. Die Straße stand in ihrer Julipracht, aber für mich war noch immer Winter, und ich sah auf eine gefilmte Kulisse, die für mich hinter die Scheiben des Krankenwagens projiziert wurde. Beim Film nennt man das Rückprojektion: das Auto des Helden rast über eine Straße, die auf einer Studiowand vorbeisaust. Hitchcocks Filme verdanken diesem Verfahren, als es noch unvollkommen war, viel von ihrer Poesie. Meine Fahrt durch Paris hat mich völlig kaltgelassen. Dabei fehlte nichts. Die Hausfrauen in geblümten Kleidern und die Jugendlichen auf Rollschuhen. Das Brummen der Busse. Die Flüche der Motorrollerkuriere. Die Place de l'Opéra wie auf einem Gemälde von Dufy. Die Bäume im Sturmangriff auf die Fassaden und ein wenig Watte am blauen Himmel. Nichts fehlte, außer mir. Ich war anderswo.
Gemüse
Am 8. Juni werden es sechs Monate, daß mein neues Leben angefangen hat. Eure Briefe sammeln sich im Schrank, Eure Zeichnungen an der Wand, und da ich nicht jedem einzeln antworten kann, kam ich auf die Idee dieser Samisdats, um von meinen Tagen, meinen Fortschritten und Hoffnungen zu berichten.
Zuerst wollte ich glauben, es sei nichts passiert. In dem halbbewußten Zustand, der dem Koma folgt, sah ich mich schon bald, bloß vielleicht auf Krücken, in den Pariser Trubel zurückkehren.« Das waren die ersten Worte des ersten Rundbriefs aus Berck, den ich im späten Frühjahr meinen Freunden und Bekannten zu schreiben beschloß. An etwa sechzig Empfänger gerichtet, erregte dieses Schreiben ein gewisses Aufsehen und korrigierte den durch Gerüchte angerichteten Schaden ein wenig. Die Stadt, dieses Ungeheuer mit hundert Mündern und tausend Ohren, das nichts weiß, aber alles sagt, hatte nämlich beschlossen, mit mir abzurechnen. Im Café de Flore, einem der Basislager des Pariser Snobismus, von dem die Gerüchte aufschwirren wie Brieftauben, hatten mir Nahestehende folgendes Gespräch zwischen unbekannten Klatschmäulern aufgeschnappt; es erinnerte an die Gefräßigkeit von Geiern, die eine aufgeschlitzte Gazelle entdeckt haben. »Weißt du, daß B. zu Gemüse geworden ist?« sagte der eine. »Natürlich, ich hab's gehört. Gemüse, ja, Gemüse.« Das Wort »Gemüse« mußte wohl dem Gaumen dieser Auguren schmeicheln, denn es wurde mehrmals, zwischen zwei Bissen überbackener Käseschnitte, wiederholt. Und der Ton insinuierte, daß nur ein Kulturbanause nicht wissen könne, daß ich nun eher zur Welt des Gemüses gehörte als zur menschlichen Gemeinschaft. Wir lebten in einer Friedenszeit. Die Überbringer falscher Nachrichten wurden nicht mehr erschossen. Wenn ich beweisen wollte, daß mein intellektuelles Potential weiterhin dem einer Schwarzwurzel überlegen war, konnte ich nur auf mich selbst bauen.
So ist eine kollektive Korrespondenz entstanden, die ich Monat für Monat fortsetze und dank derer ich immer mit allen, die ich liebe, in Verbindung bin. Mein Stolz hat Früchte getragen. Von einigen Unerbittlichen abgesehen, die hartnäckig schweigen, haben alle begriffen, daß man mich in meiner Taucherglocke erreichen kann, auch wenn sie mich manchmal an die Ränder unerforschter Welten davonträgt.
Ich bekomme bemerkenswerte Briefe. Sie werden geöffnet, entfaltet und vor meinen Augen ausgebreitet - ein Ritual, das mit der Zeit entstanden ist und dem Eintreffen der Post etwas von einer stummen, heiligen Zeremonie verleiht. Ich lese jeden Brief gewissenhaft selbst. Manchen fehlt es nicht an Ernst. Sie sprechen vom Sinn des Lebens, von der Überlegenheit der Seele, vom Mysterium jeder einzelnen Existenz, und in einer seltsamen Umkehrung behandeln die, mit denen ich die oberflächlichsten Beziehungen hatte, diese Grundfragen am ausführlichsten. Ihre Unbekümmertheit verbarg Tiefen. War ich blind und taub, oder bedarf es unbedingt der Beleuchtung durch ein Unglück, um einen Menschen in seinem wahren Licht zu zeigen?
Andere Briefe schildern ganz schlicht die kleinen Dinge, die das Vergehen der Zeit anzeigen. Rosen, die in der Dämmerung gepflückt wurden, das Faulenzen an einem verregneten Sonntag, ein Kind, das vor dem Einschlafen weint. Direkt aus der Realität gegriffen, bewegen mich diese Lebenssplitter, dieses Aufwallen von Glück mehr als alles andere. Ob es drei Zeilen oder acht Seiten sind, ob sie aus dem fernen Morgenland oder aus Montmorency kommen - ich hebe all diese Briefe wie Schätze auf. Eines Tages möchte ich sie gern aneinanderkleben, um ein kilometerlanges Band daraus zu machen, das wie eine Fahne zum Ruhm der Freundschaft flattert.