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Wir hatten ein amüsantes Mittagessen im großen Speisesaal eingenommen, der den Blick auf die ganze Rennbahn eröffnet und in dem herausgeputzte Gruppen von Gangstern, Zuhältern, mehrfach Vorbestraften und anderen bösen Buben verkehren, die sich in der Welt des Turfs bewegen. Gesättigt und zufrieden saugten wir gierig an langen Zigarren und warteten in der aufgeheizten Atmosphäre, in der Strafregister wie Orchideen erblühen.

Am Meer angekommen, biegt Vincent ab und fährt die große Esplanade entlang, ohne hinter der Menge der Sommergäste die öde, eisige Landschaft des winterlichen Berck wiederzuerkennen.

Damals in Vincennes haben wir so lange getrödelt, daß das Rennen schließlich ohne uns losging. Der Wettschalter wurde vor unserer Nase geschlossen, bevor ich Zeit hatte, das Bündel Geldscheine aus der Tasche zu ziehen, das die Redaktion mir anvertraut hatte. Trotz strikter Anweisungen zur Diskretion hatte Mithra-Grandchamps Name die Runde gemacht und das Gemunkel den unbekannten Außenseiter in ein Wundertier verwandelt, auf das alle gesetzt hatten. Jetzt konnte man sich nur noch das Rennen ansehen und hoffen… Am Eingang der letzten Kurve hatte Mithra-Grandchamp begonnen, sich vom Feld zu lösen. Am Ausgang zählte er fünf Längen Vorsprung, und wir sahen ihn wie im Traum die Ziellinie überqueren, seinen nächsten Verfolger fast vierzig Meter hinter sich. In der Redaktion haben sie bestimmt vor dem Fernsehapparat gesessen und gejubelt.

Vincents Auto schlängelt sich auf den Krankenhausparkplatz. Die Sonne strahlt. An diesem Punkt brauchen die Besucher Schneid, um mit zugeschnürter Kehle die letzten Meter zu überwinden, die mich von der Welt trennen: die automatisch aufgehenden Glastüren, den Aufzug Nr. 7 und den schrecklichen kleinen Flur, der zum Zimmer 119 führt. Durch die offenstehenden Türen sieht man nur Liegende und ans Bett Gefesselte, die das Schicksal an die äußersten Grenzen des Lebens zurückgeworfen hat. Bei diesem Anblick bleibt manchen die Luft weg. Sie müssen erst einmal ein bißchen herumlaufen, ehe sie mit festerer Stimme und weniger feuchten Augen bei mir ankommen. Wenn sie sich endlich getrauen, könnte man meinen, es seien Taucher mit Atemnot.

Ich weiß sogar von welchen, die hier vor meiner Tür die Kräfte verließen: sie haben kehrtgemacht und sind nach Paris zurückgefahren.

Vincent klopft und tritt schweigend ein. Durch die Blicke der anderen habe ich mich so daran gewöhnt, daß ich die kleinen Funken des Entsetzens nicht mehr wahrnehme, die in seinen Augen aufscheinen. Oder mir schaudert jedenfalls nicht mehr so davor. Mit meinen von der Lähmung atrophierten Gesichtszügen versuche ich etwas aufzusetzen, was ein Begrüßungslächeln sein soll. Diese Grimasse erwidert Vincent mit einem Kuß auf die Stirn. Sein roter Haarschopf, seine in viele Falten gelegte Miene, seine untersetzte Gestalt, die von einem Fuß auf den anderen tänzelt, verleihen ihm das komische Aussehen eines walisischen Gewerkschaftlers, der einen Kumpel, das Opfer eines Schlagwetters, besuchen kommt. Mit halb gesenkter Deckung kommt Vincent wie ein Boxer der Klasse Leichtschwergewicht näher. Am Tag von Mithra-Grandchamp, nach dem verhängnisvollen Einlauf ins Ziel, hat er nur folgendes von sich gegeben: »Arschlöcher. Wir sind richtige Arschlöcher. In der Redaktion nehmen sie uns mit der Brechstangeauseinander.« Das war damals sein Lieblingsausdruck.

Um ehrlich zu sein, ich hatte Mithra-Grandchamp vergessen.

Diese Geschichte ist mir gerade erst wieder eingefallen und hinterläßt eine doppelt schmerzliche Spur. Das Heimweh nach einer entschwundenen Vergangenheit und vor allem die Reue über verpaßte Gelegenheiten. Mithra-Grandchamp, das sind die Frauen, die man nicht geliebt hat, die Chancen, die man nicht ergriffen hat, die Glücksmomente, die man vorüberziehen ließ.

Heute kommt es mir so vor, als werde mein ganzes Leben nur eine Verkettung solcher kleiner Fehlschläge gewesen sein. Ein Rennen, dessen Ausgang man kennt, aber bei dem man unfähig ist, den Gewinn einzustreichen. Apropos Gewinn, wir haben uns aus der Affäre gezogen, indem wir allen ihre Einsätze zurückgegeben haben.

Die Entenjagd

Über die mannigfachen Unannehmlichkeiten hinaus, die das Locked-in-Syndrom mit sich bringt, leide ich an einer schweren Störung meiner Lauscher. Das rechte Ohr ist völlig verstopft, und links verstärkt und verzerrt meine Eustachische Röhre alle Töne jenseits von zwei Meter fünfzig. Wenn ein Flugzeug über den Strand fliegt und das Werbeband des hiesigen Vergnügungsparks hinter sich herzieht, habe ich ein Gefühl, als hätte man mir eine Kaffeemühle auf das Trommelfell gepfropft. Aber das ist nur ein vorübergehendes Getöse. Viel ätzender ist der dauernde Krach aus dem Flur, wenn jemand trotz meiner Bemühungen, alle für das Problem meiner Ohren zu sensibilisieren, die Tür nicht zugemacht hat.

Absätze klappern auf dem Linoleum, Liegen stoßen gegeneinander, Gespräche überschneiden sich, das Personal kommuniziert lautstark wie Börsenmakler an einem Tag mit heftigen Kursbewegungen, Radios werden eingeschaltet, denen niemand zuhört, und alles übertönend, vermittelt eine Bohnermaschine einen akustischen Vorgeschmack auf die Hölle. Dann gibt es noch die schrecklichen Patienten. Ich kenne welche, deren einziges Vergnügen darin besteht, immer wieder dieselbe Kassette zu hören. Ich hatte einen sehr jungen Zimmernachbarn, dem man eine Plüschente mit einem raffinierten Alarmsystem geschenkt hatte. Sobald jemand das Zimmer betrat, das heißt achtzigmal am Tag, gab seine Ente eine schrille, durchdringende Melodie von sich. Zum Glück ist der kleine Patient entlassen worden, bevor ich meinen Plan zur Entenvernichtung verwirklichen konnte. Ich habe ihn trotzdem noch in petto, man weiß ja nie, welches Unheil untröstliche Familien noch hervorrufen können.

Die Siegespalme für extravagante Nachbarschaft kommt jedoch einer Kranken zu, deren Sinne durch das Koma ganz durcheinandergeraten waren. Sie biß die Krankenschwester, packte die Pfleger beim männlichen Teil ihrer Anatomie und konnte kein Glas Wasser verlangen, ohne wie am Spieß zu schreien. Anfangs löste dieser falsche Alarm jedesmal ein regelrechtes Kampfgetöse aus, und als alle mit den Kräften am Ende waren, ging man dazu über, sie zu jeder beliebigen Tages- und Nachtzeit sich die Kehle aus dem Hals schreien zu lassen. Diese Einlagen gaben der neurologischen Station einen recht aufregenden Anstrich von »Kuckucksnest«, und als man unsere Freundin verlegte, um sie anderswo ihr »Hilfe, ich werde ermordet!« brüllen zu lassen, hat es mir irgendwie leid getan.

Erlöst von solcherlei Radau, in der wiedereingetretenen Stille, kann ich die Schmetterlinge hören, die in meinem Kopf umherfliegen. Dazu ist viel Aufmerksamkeit und sogar Sammlung nötig, denn ihre Flügelschläge sind fast unhörbar.

Etwas lautes Atmen genügt, um sie zu übertönen. Es ist übrigens erstaunlich - mein Hörvermögen bessert sich nicht, und doch höre ich sie immer deutlicher. Ich muß ein Ohr für Schmetterlinge haben.

Sonntag

Durch das Fenster sehe ich die ockerbraunen Klinkerfassaden, die im Licht der ersten Sonnenstrahlen heller werden. Der Stein nimmt ganz genau die rosa Färbung der griechischen Grammatik von M. Rat an, eine Erinnerung an die vierte Klasse. Ich war bei weitem kein brillanter Hellenist, aber ich mag diesen warmen, tiefen Farbton, der mir noch immer ein Universum des Wissens eröffnet, in dem man auf Tuchfühlung mit Alkibiades' Hund und den Helden der Thermopylen kommt. Farbenhändler nennen ihn »altrosa«. Er hat nichts mit dem Heftpflasterrosa der Krankenhausflure gemein. Noch weniger mit dem Mauve, in dem in meinem Zimmer Sockel, Tür- und Fensterleibungen gestrichen sind und das aussieht wie die Verpackung eines billigen Parfüms.

Heute ist Sonntag. Ein Sonntag zum Fürchten, an dem sich unglücklicherweise kein Besucher angemeldet hat und kein wie immer geartetes Ereignis die zähe Abfolge der Stunden unterbrechen wird. Keine Heilgymnastik, keine Logopädin, kein Psychologe. Eine Durchquerung der Wüste mit einer noch knapper als sonst ausfallenden Morgentoilette als einziger Oase. An diesen Tagen versetzen die Nachwirkungen der Samstagsgelage, verbunden mit der Sehnsucht nach Familienpicknicks, Tontaubenschießen oder Krabbenfangen, worum sie durch ihren Dienstplan gebracht werden, das Pflegepersonal in eine mechanische Stumpfheit, und die Reinigungsprozedur hat mehr mit Kadaververwertung zu tun als mit Thalassotherapie. Eine dreifache Dosis des besten Eau de Cologne genügt nicht, um über die Tatsache hinwegzutäuschen: man stinkt.