Heute ist Sonntag. Wenn ich mir den Fernseher einschalten lasse, darf ich mich nicht vertun. Ich muß höchst strategisch vorgehen. Es können nämlich drei oder vier Stunden vergehen, bevor die gute Seele kommt, die ein anderes Programm einschalten kann, und manchmal ist es besser, auf eine interessante Sendung zu verzichten, wenn eine tränenreiche Serie, ein abgeschmacktes Spiel und eine reißerische Talk-Show folgen. Der Beifall auf Teufel komm raus tut mir in den Ohren weh. Ich ziehe den stillen Genuß von Dokumentarfilmen über Kunst, Geschichte oder Tiere vor. Ich sehe sie mir ohne Kommentar an, so wie man ein Holzfeuer betrachtet.
Es ist Sonntag. Die Glocke schlägt feierlich die Stunden. Der kleine Kalender von der öffentlichen Fürsorge an der Wand, von dem Tag für Tag ein Blatt abgerissen wird, zeigt schon August. Was ist das für ein Paradox: die Zeit steht still - und rast zugleich in wildem Tempo? In meiner eingeengten Welt dehnen sich die Stunden, und die Monate vergehen wie der Blitz. Ich kann es nicht fassen, daß schon August ist. Freunde, Frauen, Kinder sind vom Ferienwind verstreut. In der Phantasie schleiche ich mich in die Biwaks, in denen sie ihr Sommerquartier aufgeschlagen haben, auch wenn mir diese Rundreise ein wenig das Herz zerreißt. In der Bretagne kommt ein Schwarm Kinder auf Fahrrädern vom Markt. Alle Gesichter strahlen vor Lachen. Einige dieser Kinder haben das Alter der großen Sorgen schon lange erreicht, aber auf diesen von Rhododendren gesäumten Wegen kann jedes seine verlorene Unschuld wiederfinden. Heute nachmittag werden sie die Insel im Boot umrunden. Der kleine Motor wird gegen die Strömungen ankämpfen. Jemand wird sich mit geschlossenen Augen im Bug ausstrecken und den Arm im kalten Wasser treiben lassen. In der Provence muß man sich im Innern der Häuser verkriechen, auf die die Sonne niederbrennt. Man füllt seine Aquarellblocks. Ein Kätzchen mit gebrochener Pfote sucht in einem Pfarrgarten nach schattigen Ecken, und weiter südlich, in der Camargue, überquert eine Wolke junger Stiere die Weite eines Sumpfs, aus dem der Duft des ersten Anisschnapses aufsteigt. Überall überstürzen sich die Vorbereitungen für das große sonntägliche Treffen, das alle Mamas im voraus vor Ermattung zum Gähnen bringt, das für mich aber etwas von einem phantastischen, vergessenen Ritus bekommt: das Mittagessen.
Es ist Sonntag. Ich betrachte forschend die Bücher, die sich auf dem Fensterbrett stapeln und eine ziemlich nutzlose kleine Bibliothek bilden, denn heute wird niemand kommen und mir daraus vorlesen. Seneca, Zola, Chateaubriand, Valery Larbaud sind einen Meter von mir entfernt, aber grausam unerreichbar.
Eine pechschwarze Fliege läßt sich auf meiner Nase nieder. Ich verdrehe den Kopf, um sie abzuschütteln. Sie klammert sich fest. Die griechisch-römischen Ringkämpfe beiden Olympischen Spielen waren nicht so wild. Es ist Sonntag.
Les demoiselles de Hongkong
Ich habe das Reisen geliebt. Zum Glück konnte ich im Laufe der Jahre genügend Bilder, Aromen, Eindrücke speichern, um an Tagen, wenn hier ein schiefergrauer Himmel jede Aussicht verstellt, auf Reisen gehen zu können. Das sind seltsame Streifzüge. Der ranzige Geruch einer New Yorker Bar. Der Duft des Elends auf dem Markt von Rangun. Reisen ans Ende der Welt. Die eiskalte weiße Nacht von Sankt Petersburg oder die unglaubliche Weißglut der Sonne von Furnace Creek in der Wüste von Nevada. Diese Woche ist es ein wenig speziell. Jeden Morgen in der Dämmerung fliege ich nach Hongkong, wo der Kongreß der internationalen Ausgaben meiner Zeitschrift tagt. Ich sage weiterhin »meine Zeitschrift«, obwohl es nicht mehr zutrifft, so als bilde dieses Possessivpronomen einen der dünnen Fäden, die mich mit der Welt verbinden, die sich bewegt.
In Hongkong habe ich ein wenig Probleme, mich zurechtzufinden, denn im Gegensatz zu vielen anderen Städten war ich dort noch nie. Jedesmal, wenn sich die Gelegenheit bot, hielt eine boshafte Schicksalsfügung mich von diesem Ziel fern. Wenn ich nicht am Tag vor der Abreise krank wurde, verlegte ich meinen Paß, oder eine Reportage berief mich an einen anderen Ort. Kurzum, der Zufall erteilte mir Aufenthaltsverbot. Einmal habe ich meinen Platz Jean-Paul K. überlassen, der später mehrere Jahre in einem Kerker in Beirut verbringen sollte, wo er sich die Liste der edlen Bordeaux-Weine aufsagte, um nicht verrückt zu werden. Seine Augen lachten hinter seinen runden Brillengläsern, als er mir aus Hongkong ein schnurloses Telefon mitbrachte, was damals der allerletzte Schrei war. Ich mochte Jean-Paul sehr, aber ich habe die Geisel der Hisbollah nie wiedergesehen, wahrscheinlich weil ich mich schämte, mich damals dafür entschieden zu haben, eine kleine Rolle in einer Welt des Luxus und der Moden zu spielen. Jetzt bin ich der Gefangene, und er ist der freie Mann. Und da ich nicht alle Weingüter im Medoc kenne, mußte ich mir eine andere Litanei ausdenken, um die leersten Stunden auszufüllen. Ich zähle die Länder, in denen meine Zeitschrift erscheint. Es gibt schon achtundzwanzig Staaten in dieser UNO der Verführung.
Apropos, wo seid ihr, meine lieben Mitschwestern, ihr unermüdlichen Botschafterinnen unseres french touch? Den ganzen Tag über habt ihr im Salon eines Hotels auf chinesisch, englisch, thai, portugiesisch und tschechisch diskutiert, um die metaphysischste aller Prüfungsfragen zu beantworten: Wer ist die Elle-Frau? Ich stelle mir euch jetzt in den neontriefenden Straßen Hongkongs vor, wo man Taschencomputer und Schalen mit Nudelsuppe verkauft, wie ihr hinter der ewigen Fliege unseres Generaldirektors hertrippelt, der alle Mann im Sturmschritt anführt. Halb Spirou, halb Bonaparte, bleibt er nur vor den höchsten Wolkenkratzern stehen und mustert sie so verwegen, als wolle er sie gleich verschlingen.
Wohin geht's, General? Springen wir auf das Tragflügelboot nach Macao, um ein paar Dollar in der Hölle zu verbrennen, oder gehen wir hinauf in die Bar Felix im Hotel Peninsula, die der französische Designer Philippe S. ausgestattet hat? Ein Anfall von Narzißmus läßt mich den zweiten Vorschlag wählen. Ein Bildnis von mir, der ich es hasse, fotografiert zu werden, ist in dieser luftigen Schenke auf die Lehne eines Stuhls reproduziert, zusammen mit etwa zehn anderen Pariser Figuren, deren Porträt Philippe S. anfertigen ließ. Natürlich hat diese Aktion einige Wochen, bevor das Schicksal mich in eine Vogelscheuche verwandelte, stattgefunden. Ich weiß nicht, ob mein Sitz besser oder schlechter ankommt als die anderen, aber erzählen Sie dem Barkeeper ja nicht die Wahrheit. Die Menschen dort sind abergläubisch, und keine jener reizenden kleinen Chinesinnen im Minirock würde sich mehr auf mich setzen.
Die Botschaft
Diese Ecke des Krankenhauses erweckt zwar den falschen Eindruck eines angelsächsischen College, aber die Stammgäste der Cafeteria gehören ganz sicher nicht zum Club der toten Dichter. Die Mädchen haben harte Augen, die Jungen Tätowierungen und manchmal Ringe an den Fingern. Sie sitzen in ihren Sesseln beisammen, um über Raufereien und Motorräder zu reden, und rauchen eine Zigarette nach der anderen. Alle scheinen ein Kreuz auf ihren schon gebeugten Schultern zu tragen, ein Galeerenschicksal mitzuschleppen, in dem der Aufenthalt in Berck nur eine Station zwischen einer Kindheit als geschlagener Hund und einer Zukunft als Arbeitsloser ist. Wenn ich durch ihre verrauchte Höhle fahre, wird es still wie in der Sakristei, aber ich kann in ihren Augen weder Mitleid noch Mitgefühl lesen.