»Es wäre besser, nicht über die Autobahn zu fahren.«
»Wie Sie wollen…« So stark der BMW auch ist, er bleibt im Gewühl auf dem Pont de Suresnes hängen. Wir fahren an der Rennbahn von Saint-Cloud entlang, dann am Hôpital Raymond-Poincaré in Garches. Ich kann dort nicht vorbeifahren, ohne daß mir eine ziemlich gruselige Erinnerung aus meiner Kindheit einfällt. Als Schüler am Lycée Condorcet hatte ich einen Turnlehrer, der mit uns ins Stadion von Vaucresson fuhr, um Freiluftübungen zu machen, die mir verhaßter waren als alles andere. Eines Tages prallte der Bus, der uns transportierte, mit voller Wucht auf einen Mann, der, ohne sich umzuschauen, aus dem Krankenhaus gelaufen kam. Es gab ein komisches Geräusch und eine Vollbremsung. Der Mann war auf der Stelle tot und hinterließ eine Blutspur auf der Windschutzscheibe des Busses.
Es war ein Winternachmittag wie dieser. Bis man alles aufgenommen hatte, war es Abend geworden. Ein anderer Fahrer brachte uns nach Paris zurück. Hinten im Bus wurde mit zittrigen Stimmen Penny Lane gesungen. Schon wieder die Beatles. An welche Schlager wird sich Théophile erinnern, wenn er vierundvierzig ist?
Nach eineinhalb Stunden Fahrt kommen wir an dem Haus an, in dem ich zehn Jahre gelebt habe. Nebel senkt sich über den großen Garten, der in der Zeit des Glücks von so vielen Rufen, so viel Gelächter widerhallte. Théophile erwartet uns, auf seinem Rucksack sitzend, fertig fürs Wochenende in der Diele. Ich würde gern telefonieren, um die Stimme von Florence, meiner neuen Lebensgefährtin, zu hören, aber sie wird jetzt wohl zum Sabbatgebet bei ihren Eltern sein. Ein einziges Mal habe ich diesem Ritual in einer jüdischen Familie beigewohnt. Das war hier, in Montainville, im Haus des alten tunesischen Arztes, der meine Kinder zur Welt gebracht hat.
Von da an wird alles unzusammenhängend. Mein Sehen trübt sich, und meine Gedanken geraten durcheinander. Ich setze mich trotzdem ans Steuer des BMW und konzentriere mich auf die rot-gelben Lichter des Armaturenbretts. Ich fahre im Zeitlupentempo und erkenne im Lichtstrahl der Scheinwerfer kaum die Kurven, die ich doch Tausende Male genommen habe. Ich fühle Schweiß auf meiner Stirn perlen, und als uns ein Auto entgegenkommt, sehe ich es doppelt. An der ersten Kreuzung fahre ich auf die Seite. Ich steige schwankend aus dem BMW. Ich kann kaum gerade stehen. Ich lasse mich auf den Rücksitz fallen. Ich habe nur eine fixe Idee: zurück ins Dorf zu fahren, wo auch meine Schwägerin Diane wohnt, die Krankenschwester ist. Halb bewußtlos, bitte ich Théophile, sie schnell zu holen, sobald wir vor ihrem Haus ankommen. Einige Sekunden später ist Diane da. Sie untersucht mich in weniger als einer Minute. Ihr Urteil lautet:
»Er muß in die Klinik. So schnell wie möglich.« Bis dorthin sind es fünfzehn Kilometer. Diesmal rast der Chauffeur wie ein Rennfahrer mit quietschenden Reifen los. Ich fühle mich äußerst merkwürdig, so als hätte ich einen LSD-Trip eingeworfen, und ich sage mir, daß solche Phantasien nicht mehr zu meinem Alter passen. Nicht einen Augenblick kommt mir der Gedanke, daß ich vielleicht im Begriff bin, zu sterben.
Auf der Straße nach Mantes brummt der BMW in den höchsten Tönen, und wir überholen eine ganze Schlange Autos, indem wir uns mit Hupen einen Weg bahnen. Ich will etwas sagen wie: »Wartet, es wird gleich wieder besser. Es lohnt nicht, einen Unfall zu riskieren«, aber kein Ton kommt aus meinem Mund, und mein unkontrollierbar gewordener Kopf wackelt hin und her. Die Beatles und ihr Song von heute morgen fallen mir wieder ein. And as the news were rather sad, I saw the photograph. Sehr schnell sind wir vor der Klinik. Leute rennen in alle Richtungen. Mit baumelnden Armen werde ich in einen Rollstuhl gehoben. Die Türen des BMW schlagen leise zu.
Jemand hat mir einmal gesagt, gute Autos erkenne man am Ton dieses Zuschlagens. Das Neonlicht der Flure blendet mich.
Im Aufzug überschütten mich Unbekannte mit Ermutigungen, und die Beatles machen sich an das Finale von A day in the life.
Das Klavier, das aus dem sechzigsten Stock fällt. Bevor es aufschlägt, habe ich Zeit für einen letzten Gedanken. Ich muß im Theater absagen. Wir wären ohnehin zu spät gekommen.
Wir gehen morgen abend. Übrigens, wo ist eigentlich Théophile? Und ich versinke im Koma.
Der Neubeginn
Der Sommer geht zu Ende. Die Nächte werden kühler, und ich kuschele mich wieder unter die dicken blauen Decken mit dem Aufdruck »Krankenhäuser von Paris«. Jeder Tag bringt sein Teil bekannter Gesichter zurück, die die Ferienzeit ausgeklammert hatte: die für die Wäsche zuständige Frau, den Zahnarzt, den Postverteiler, eine Krankenschwester, die inzwischen Großmutter eines kleinen Thomas geworden ist, und den Pfleger, der sich im Juni an einem Bettgitter den Finger gebrochen hatte. Alle nehmen ihre vertrauten Gänge und Gewohnheiten wieder auf, und dieser erste Neubeginn im Krankenhaus nach den Ferien bestätigt mich in einer Gewißheit: Ich habe wirklich und wahrhaftig ein neues Leben begonnen, und es findet hier, zwischen diesem Bett, diesem Rollstuhl, diesen Fluren statt, und nirgendwo anders.
Ich schaffe es, das Lied vom Känguruh zu brummen, die Testhymne meiner logopädischen Fortschritte:
Vom Neubeginn der anderen dringen nur gedämpfte Echos zu mir. Neuerscheinungen in der Literatur, ein neues Schuljahr, eine neue Saison in Paris - bald werde ich mehr darüber wissen, wenn die Reisenden sich wieder auf den Weg nach Berck machen und in ihrem Gepäck phantastische Neuigkeiten mitbringen. Angeblich läuft Théophile mit Sportschuhen herum, deren Absätze blinken, wenn er damit auftritt. Man kann ihm im Dunkeln folgen. Bis dahin genieße ich zum ersten Mal seit langer Zeit fast leichten Herzens die letzte Augustwoche. Ich habe nicht mehr das schreckliche Gefühl eines Countdowns, der, zu Beginn der Ferien in Gang gesetzt, unerbittlich deren größten Teil verdirbt.
Die Ellbogen auf den rollbaren kleinen Resopaltisch gestützt, der ihr als Schreibtisch dient, liest Claude mir diese Texte vor, die wir seit zwei Monaten jeden Nachmittag geduldig aus dem Nichts geholt haben. Es freut mich, manche Seiten wiederzuhören. Andere enttäuschen uns. Wird all das ein Buch ergeben? Während ich ihr zuhöre, betrachte ich ihr braunes Haar, ihre sehr blassen Wangen, die Sonne und Wind kaum etwas rosig gefärbt haben, ihre von langen bläulichen Venen durchzogenen Hände und die Szenerie, die das Erinnerungsbild eines arbeitsamen Sommers werden wird. Das große blaue Heft, dessen rechte Seiten sie mit einer ordentlich über die Linien laufenden Schrift füllt, das Federmäppchen voll nachfüllbarer Stifte, der Stoß Papierservietten für den schlimmsten Speichelfluß und die Geldbörse aus rotem Bast, aus der sie ab und zu das Kleingeld nimmt, um sich einen Kaffee zu holen. Durch den halboffenen Reißverschluß des Täschchens sehe ich einen Hotelzimmerschlüssel, eine Metrokarte und einen zusammengefalteten Hundertfrancschein, die mir vorkommen wie von einer auf die Erde entsandten Raumsonde mitgebrachte Objekte, anhand deren die Wohn-, Transport- und Handelsbeziehungsweisen der Erdbewohner studiert werden sollen. Der Anblick macht mich ratlos und nachdenklich. Gibt es in diesem Kosmos einen Schlüssel, um meine Taucherglocke aufzuriegeln? Eine Metrolinie ohne Endstation? Eine genügend starke Währung, um meine Freiheit zurückzukaufen? Ich muß anderswo suchen. Ich mache mich auf den Weg.