Das Verfahren ist ziemlich rudimentär. Man buchstabiert mir das ABC in der ESA-Version, bis ich meinen Gesprächspartner mit einem Blinzeln bei dem Buchstaben anhalte, den er sich notieren soll. So geht es mit den folgenden Buchstaben weiter, und wenn kein Fehler passiert, erhält man ziemlich schnell ein ganzes Wort, dann mehr oder weniger verständliche Satzteile.
Das ist die Theorie, die Gebrauchsanweisung, die Erläuterung.
Nicht alle kommen gleich gut mit dem Code zurecht, wie man diese Art, meine Gedanken zu übersetzen, auch nennt.
Kreuzworträtsellöser und Scrabble-Spieler haben eine ganze Länge Vorsprung. Mädchen sind besser als Jungen. Durch viel Übung kennen einige das Spiel auswendig und benutzen nicht einmal mehr das hochheilige Heft, halb Gedächtnisstütze, um die Buchstabenreihenfolge in Erinnerung zu bringen, halb Notizblock, auf dem alle meine Äußerungen verzeichnet werden wie die Orakel einer Pythia.
Ich frage mich, zu welchen Schlüssen die Ethnologen im Jahr 5000 kommen werden, wenn sie in diesen Heften blättern sollten, in denen sich auf ein und derselben Seite Sätze finden, wie: »Die Heilgymnastin ist schwanger«, »Vor allem an den Beinen«, »Von Arthur Rimbaud« und »Die Franzosen haben wirklich gespielt wie die Schweine«. Das Ganze unterbrochen von unverständlichem Gekritzel, falsch zusammengesetzten Wörtern, verlorenen Buchstaben und alleinstehenden Silben.
Die Empfindsamen verlieren am schnellsten die Orientierung. Mit tonloser Stimme rasseln sie das Alphabet herunter, notieren auf gut Glück ein paar Buchstaben und rufen angesichts des Resultats ohne Hand und Fuß tapfer aus: »Ich bin einfach unfähig!« Das ist letztlich ganz erholsam, denn sie übernehmen am Ende die ganze Unterhaltung, stellen die Fragen und geben die Antworten, ohne daß man sie anzukurbeln braucht. Mehr fürchte ich die Ausweichenden.
Wenn ich sie frage: »Wie geht's?«, antworten sie: »Gut« und schieben mir den Schwarzen Peter gleich wieder zu. Mit ihnen wird das Alphabet ein Sperrfeuer, und man muß zwei oder drei Fragen auf Vorrat haben, um nicht unterzugehen. Die Bedürftigen dagegen machen nie Fehler. Sie notieren gewissenhaft jeden Buchstaben und versuchen nie das Geheimnis eines Satzes herauszufinden, bevor er fertig ist.
Nicht einmal das kürzeste Wort wagen sie zu vervollständigen.
Nie würden sie von sich aus das »gnon« zu »Champi«, das auf »Atomkraft« folgende »werk« oder das »lich« ergänzen, ohne das es kein »unend« und kein »unerträg« gäbe. Diese Umstandskrämer machen den Prozeß ziemlich langwierig, aber zumindest werden Sinnwidrigkeiten vermieden, in die sich die Impulsiven verstricken, wenn sie ihre Intuitionen nicht überprüfen. Die Poesie dieser intellektuellen Spiele habe ich an dem Tag begriffen, als ich dazu ansetzte, um meine Sonnenbrille zu bitten, und man mich höflich fragte, was ich denn mit der Sonne wolle …
Die Kaiserin
Es gibt nicht mehr viele Orte in Frankreich, an denen die Erinnerung an Kaiserin Eugénie noch gepflegt wird. In der großen Galerie des Hôpital maritime, einem riesigen, hallenden Raum, in dem fünf Rollstühle nebeneinander fahren können, erinnert eine Vitrine daran, daß die Gemahlin von Napoleon III. die Patin dieser Einrichtung war. Die zwei Hauptkuriositäten jenes Mini-Museums sind eine weiße Marmorbüste, die diese entthronte Hoheit, die mit vierundneunzig Jahren, ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des Zweiten Kaiserreichs, gestorben ist, im Glanz ihrer Jugend wiedererstehen läßt, und der Brief, in dem der stellvertretende Bahnhofsvorsteher von Berck dem Herausgeber des Correspondant maritime den kurzen kaiserlichen Besuch vom 4. Mai 1864 erzählt. Man sieht genau die Ankunft des Sonderzugs vor sich, das Ballett der jungen Frauen, die Eugénie begleiten, den Gang der fröhlichen Schar durch die Stadt und im Krankenhaus die kleinen Patienten, die ihrer erlauchten Schutzherrin vorgestellt werden. Eine Zeitlang habe ich keine Gelegenheit ausgelassen, vor diesen Reliquien meine Andacht zu verrichten.
Den Bericht des Eisenbahners habe ich wohl zwanzigmal gelesen. Ich mischte mich unter die schnatternde Schar der Hofdamen, und während Eugénie von einem Haus zum anderen ging, folgte ich ihrem Hut mit gelben Bändern, ihrem Sonnenschirm aus Taft und ihrer vom Eau de Cologne des Hofparfümeurs geschwängerten Spur. An einem sehr windigen Tag habe ich es sogar gewagt, mich ihr zu nähern, und habe mein Gesicht zwischen den Falten ihres Kleides aus weißer Gaze mit breiten Satinstreifen vergraben. Es war weich wie Schlagsahne und so frisch wie der Morgentau. Sie hat mich nicht zurückgestoßen. Sie ist mir mit den Fingern durch das Haar gefahren und hat sanft, mit einem spanischen Akzent, ähnlich dem der Neurologin, zu mir gesagt: »Nun, mein Kind, du mußt sehr geduldig sein.« Sie war nicht mehr die Kaiserin der Franzosen, sondern eine trostreiche Gottheit wie die heilige Rita, die Schutzheilige der hoffnungslosen Fälle.
Und dann, eines Nachmittags, als ich ihrem Bildnis meinen Kummer anvertraute, hat sich ein unbekanntes Gesicht zwischen sie und mich geschoben. In einer Spiegelung der Vitrine ist ein Männergesicht aufgetaucht, das in einem Dioxinfaß verweilt zu haben schien. Der Mund war schief, die Nase uneben, das Haar zerzaust, der Blick von Entsetzen erfüllt. Ein Auge war zugenäht und das andere aufgerissen wie das Auge Kains. Eine Minute lang habe ich diese erweiterte Pupille angestarrt, ohne zu begreifen, daß es ganz einfach ich war.
Da hat mich eine seltsame Euphorie erfaßt. Ich war nicht nur exiliert, paralysiert, stumm, halb taub, aller Freuden beraubt und auf ein Quallendasein herabgemindert, sondern obendrein war ich auch noch gräßlich anzusehen. Ich habe den nervösen Lachanfall bekommen, den eine Serie von Katastrophen auslöst, wenn man nach einem letzten Schicksalsschlag beschließt, diesen als Scherz aufzufassen. Mein vergnügtes Röcheln hat Eugénie erst einmal aus der Fassung gebracht, ehe sie sich von meiner Erheiterung anstecken ließ. Wir haben gelacht, bis uns die Tränen kamen. Die städtische Blaskapelle hat einen Walzer gespielt, und ich war so fröhlich, daß ich gern aufgestanden wäre, um Eugénie zum Tanz aufzufordern, wenn die Umstände es erlaubt hätten. Wir wären auf den Kilometern von Fliesen herumgewirbelt. Seit diesem Ereignis finde ich immer, wenn ich durch die große Galerie komme, daß die Kaiserin ein bißchen schalkhaft aussieht.
Cinecittà
Den lärmenden Ultraleichtflugzeugen, die die Côte d'Opale in einer Höhe von hundert Metern überfliegen, bietet das Hôpital maritime einen fesselnden Anblick. Mit seinen massiven, überladenen Formen, seinen hohen braunen Klinkermauern im Stil der Häuser des Nordens wirkt es, als sei es inmitten der Sandflächen zwischen der Stadt Berck und den grauen Wassern des Ärmelkanals gestrandet. Am Giebel der schönsten Fassade steht wie an den öffentlichen Bädern und Gemeindeschulen in der Hauptstadt »Ville de Paris«. Im Zweiten Kaiserreich für kranke Kinder erbaut, denen das Klima in den Pariser Krankenhäusern keine Heilung bot, hat diese Außenstelle ihren extraterritorialen Status bewahrt.
In Wirklichkeit befinden wir uns zwar im Pas-de-Calais, doch für die öffentliche Fürsorge sind wir am Ufer der Seine.
Durch endlose Gänge miteinander verbunden, bilden die Gebäude ein wahres Labyrinth, und nicht selten begegnet man im Sorrel einem verirrten Patienten aus dem Ménard, nach den berühmten Chirurgen, deren Namen die Hauptgebäude tragen.