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Augenblicklich erfrische ich meine Geschmacksnerven mit Melonenstücken und roten Früchten. Austern und Wild kommen im Herbst dran, wenn ich bis dahin noch Lust auf sie habe, denn ich werde vernünftig, geradezu asketisch. Zu Beginn meines langen Fastens trieb mich der Mangel ständig in meine imaginäre Speisekammer. Ich hatte Heißhunger. Heute könnte ich mich fast mit der Hausmacherwurst im Netz zufriedengeben, die noch immer in einem Winkel meines Kopfes hängt. Eine unregelmäßig geformte Lyoner Salami, sehr trocken und grob gehackt. Jede Scheibe schmilzt ein bißchen auf der Zunge, bevor man sie kaut, um ihr volles Aroma herauszuholen. Diese Wonne ist für mich beinah etwas Heiliges, ein Fetisch, dessen Geschichte fast vierzig Jahre zurückreicht. Ich war noch im Alter der Bonbons, aber ich zog ihnen schon Fleisch und Wurst vor, und der Pflegerin meines Großvaters mütterlicherseits war aufgefallen, daß ich bei jedem meiner Besuche in der finsteren Wohnung am Boulevard Raspail mit reizendem Lispeln Wurst von ihr verlangte. Da sie so geschickt darin war, der Naschhaftigkeit von Kindern und Greisen nachzugeben, hat diese tüchtige Gouvernante am Ende einen Doppelsieg davongetragen, indem sie mir eine Wurst schenkte und meinen Großvater kurz vor seinem Tod heiratete.

Meine Freude, ein solches Geschenk zu bekommen, war ebenso groß wie der Verdruß, den diese überraschende Heirat in der Familie verursachte. Vom Großvater habe ich nur ein ziemlich verschwommenes Bild in Erinnerung, eine im Halbdunkel liegende Gestalt mit dem strengen Gesicht von Victor Hugo auf den alten Fünfhundertfrancscheinen, die damals in Umlauf waren. Viel deutlicher sehe ich die Wurst vor mir, die zwischen meinen Spielsachen und meinen Bilderbüchern unpassend herumliegt. Ich fürchte, ich werde nie eine bessere essen.

Der Schutzengel

Auf dem Namensschild an Sandrines weißem Kittel steht: Logopädin, aber es müßte heißen: Schutzengel. Sie war es, die den Kommunikationscode eingeführt hat, ohne den ich von der Welt abgeschnitten wäre. Zwar haben die meisten meiner Freunde das System nach einer Unterweisung übernommen, aber hier im Krankenhaus sind Sandrine und eine Psychologin leider die einzigen, die es praktizieren.

Meistens steht mir also nur ein kümmerliches Arsenal von mimischen Veränderungen, Augenblinzeln und Kopfschütteln zur Verfügung, um darum zu bitten, daß die Tür zugemacht, eine eingeklemmte Wasserspülung behoben, der Fernseher leiser gestellt oder ein Kopfkissen hochgeschoben wird. Es gelingt mir keineswegs immer. Im Laufe der Wochen hat mir diese erzwungene Einsamkeit zu einem gewissen Stoizismus verholfen und zu der Erkenntnis, daß das Krankenhauspersonal zweigeteilt ist. Da gibt es die Mehrheit, die mein Zimmer nicht betreten würde, ohne zu versuchen, meine SOS-Signale zu begreifen, und die anderen, weniger gewissenhaften, die so tun, als sähen sie meine Notzeichen nicht, und wieder verschwinden. So wie dieser reizende Unmensch, der mir die Übertragung des Fußballspiels Bordeaux-München in der Halbzeit abgedreht hat und mir ein unwiderrufliches »Gute Nacht« zukommenließ. Diese Unmöglichkeit der Kommunikation belastet natürlich weit über die praktischen Aspekte hinaus. So kann man den Trost ermessen, den es für mich bedeutet, wenn Sandrine zweimal am Tag an die Tür klopft, mit einem Schnütchen wie ein ertapptes Eichhörnchen hereinschaut und auf einen Schlag alle bösen Geister vertreibt.

Die unsichtbare Taucherglocke, die mich ständig umschließt, erscheint dann weniger bedrückend.

Die Logopädie ist eine Kunst, die es verdient, daß man sie kennt. Sie können sich nicht vorstellen, welche Turnübungen Ihre Zunge automatisch veranstaltet, um alle sprachlichen Laute hervorzubringen. Derzeit scheitere ich am »L«, ein armseliger Chefredakteur, der nicht einmal mehr den Namen seiner eigenen Zeitschrift aussprechen kann. An Glückstagen finde ich zwischen zwei Hustenanfällen den Atem und die Energie, um einige Phoneme stimmlich zu artikulieren. An meinem Geburtstag ist es Sandrine gelungen, mich dazu zu bringen, das ganze Alphabet verständlich auszusprechen. Ein schöneres Geschenk hätte man mir nicht machen können. Ich hörte eine heisere Stimme aus der Tiefe der Zeiten, die die sechsundzwanzig Buchstaben dem Nichts entriß. Diese erschöpfende Übung gab mir das Gefühl, ein Höhlenmensch zu sein, der dabei ist, die Sprache zu entdecken.

Manchmal unterbricht das Telefon unsere Arbeit. Ich nutze Sandrines Anwesenheit, um mit einigen mir Nahestehenden verbunden zu sein und Lebensbruchstücke aufzuschnappen, so wie man einen Schmetterling einfängt. Meine Tochter Céleste erzählt von ihren Spazierritten auf dem Pony. In fünf Monaten wird sie neun. Mein Vater erklärt mir seine Schwierigkeiten, sich auf den Beinen zu halten. Er macht tapfer sein dreiundneunzigstes Lebensjahr durch. Das sind die beiden äußersten Glieder der Kette aus Liebe, die mich umgibt und schützt. Ich frage mich oft, wie diese einseitigen Dialoge auf meine Gesprächspartner wirken. Mich erschüttern sie. Wie gern würde ich diesen liebevollen Anrufen etwas anderes als mein Schweigen entgegensetzen. Die sanfte Florence spricht nie mit mir, wenn ich nicht vorher laut in den Hörer geatmet habe, den Sandrine an mein Ohr hält. »Jean-Do, bist du da?« fragt Florence beunruhigt am anderen Ende.

Ich muß sagen, daß ich es manchmal selbst nicht mehr so recht weiß.

Die Fotografie

Als ich meinen Vater das letzte Mal sah, habe ich ihn rasiert. Das war in derselben Woche wie mein Hirnschlag. Da es ihm nicht gutging, habe ich bei ihm in seiner kleinen Pariser Wohnung in der Nähe der Tuilerien übernachtet, und morgens, nachdem ich ihm seinen Tee mit Milch gekocht hatte, habe ich mich daran gemacht, ihn von seinem Mehrere-Tage-Bart zu befreien. Diese Szene ist mir unauslöschlich in Erinnerung.

Tief in den Sessel aus rotem Filz eingesunken, in dem er für gewöhnlich die Zeitungen ausschlachtet, trotzt Papa tapfer dem blinkenden Rasiermesser, das sich an seine schlaffe Haut macht. Ich habe ihm ein breites Handtuch um den hageren Hals gelegt, habe eine dicke Wolke Schaum auf seinem Gesicht verteilt und versuche seine stellenweise von geplatzten Äderchen durchzogene Haut nicht zu sehr zu reizen. Vor Müdigkeit liegen die Augen tief in ihren Höhlen, die Nase tritt stärker aus dem abgezehrten Gesicht hervor, aber der Mann hat nichts verloren von seiner imposanten Erscheinung mit der weißen Haarpracht, die seine große Gestalt von jeher krönt.

Ringsum im Zimmer haben sich so viele Schichten seiner Lebenserinnerungen angehäuft, bis eine jener Rumpelkammern alter Leute entstanden ist, deren Geheimnisse nur ihnen allein bekannt sind. Es ist ein Durcheinander von alten Zeitschriften, Schallplatten, die kein Mensch mehr hört, verschiedenartigsten Gegenständen und Fotos aus allen Epochen, die unter dem Rahmen eines großen Spiegels stecken. Da ist Papa im Matrosenanzug, wie er mit dem Reifen spielt, vor dem Ersten Weltkrieg, meine Tochter mit acht Jahren als Amazone und eine Aufnahme von mir, schwarzweiß, auf einem Minigolfplatz. Ich war elf Jahre alt, hatte Blumenkohlohren und sehe aus wie ein etwas dummer Streber, was um so haarsträubender ist, als ich damals schon ein professioneller Faulpelz war.

Ich beende mein Amt als Barbier damit, meinen Erzeuger mit seinem Lieblingstoilettenwasser zu besprengen. Dann verabschieden wir uns, ohne daß er, wie sonst oft, auf den Brief in seinem Schreibtisch zu sprechen kommt, in dem sein Letzter Wille steht. Seither haben wir uns nicht wiedergesehen. Ich verlasse meine Sommerfrische in Berck nicht, und mit zweiundneunzig Jahren erlauben ihm seine Beine nicht mehr, die majestätische Treppe seines Wohnhauses hinunterzusteigen. Wir haben beide das Locked-in-Syndrom, jeder auf seine Weise, ich in meinem Gehäuse, er in seinem dritten Stock. Jetzt werde ich jeden Morgen rasiert, und ich denke oft an ihn, wenn ein Pfleger mir mit einer acht Tage alten Klinge sorgfältig die Wangen schabt. Ich hoffe, ich habe einen aufmerksameren Figaro abgegeben.