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Da Joséphine noch immer schlief, zog ich mich leise an, um einer meiner Lieblingsbeschäftigungen nachzugehen: nächtliches Umherstreifen. Das war meine Art, gegen Widrigkeiten anzukämpfen: bis zur Erschöpfung vor mich hin zu laufen. Auf der Straße kippten holländische Jugendliche geräuschvoll große Schoppen Bier hinunter. Sie hatten Löcher in Müllsäcke geschnitten, um sich Regenmäntel daraus zu machen. Schwere Gitter verwehrten den Zugang zur Grotte, aber durch sie hindurch konnte man den Schein von Hunderten von Kerzen sehen, die dort herunterbrannten. Viel später führte mich mein Umherirren wieder in die Straße der Andenkenläden. Im vierten Schaufenster hatte eine völlig identische Maria bereits den Platz der unseren eingenommen.

Da bin ich zum Hotel zurückgegangen, und schon von weitem sah ich unser Zimmer, das mitten im Halbdunkel blinkte. Ich bin die Treppe hinaufgestiegen und habe mich dabei bemüht, die Träume des Nachtportiers nicht zu stören. Die Spur der Schlange lag wie ein Schmuckstück in seinem Kästchen aufgeschlagen auf meinem Kopfkissen. »Ach«, murmelte ich, »Charles Sobraj, den hatte ich völlig vergessen.« Ich erkannte Joséphines Schrift. Ein riesiges I lief quer über die Seite 168. Es war der Anfang einer Botschaft, die sich über gut zwei Kapitel des Buchs hinzog und sie ganz unlesbar machte.

Ich liebe dich, Ducon. Laß deine Joséphine nicht leiden.

Zum Glück war ich mit der Lektüre schon weiter.

Als ich die Jungfrau Maria ausknipste, brach gerade der neue Tag an.

Der Vorhang

Heimlich beobachte ich meine Kinder, zusammengesunken in meinem Rollstuhl, den ihre Mutter durch die Krankenhausflure schiebt. Ich bin zwar ein etwas zombiehafter Vater geworden, aber Théophile und Céleste sind ganz wirklich, ständig in Bewegung und am Meckern, und ich werde nicht müde, sie gehen, einfach nur neben mir gehen zu sehen, wobei sie das Unbehagen, das auf ihren kleinen Schultern lastet, mit selbstsicherem Getue kaschieren. Im Gehen wischt Théophile die Speichelfäden, die aus meinem geschlossenen Mund rinnen, mit Papierservietten ab. Seine Geste ist verstohlen, zugleich zärtlich und furchtsam, so als habe er ein Tier mit unvorhersehbaren Reaktionen vor sich. Sobald wir langsamer werden, legt Céleste ihre nackten Arme um meinen Kopf, bedeckt meine Stirn mit schallenden Küssen und sagt wieder und wieder: »Das ist mein Papa, das ist mein Papa«, wie einen Zauberspruch. Wir feiern Vatertag. Bis zu meinem Hirnschlag hatten wir nicht das Bedürfnis, dieses aufgezwungene Miteinander in unseren Gefühlskalender einzutragen, aber jetzt verbringen wir diesen symbolischen Tag zusammen, wahrscheinlich um zu bezeugen, daß eine Andeutung, ein Schatten, ein Stückchen Papa immer noch ein Papa ist. Ich bin hin- und hergerissen zwischen der Freude, sie ein paar Stunden lang leben, sich bewegen, lachen oder weinen zu sehen, und der Befürchtung, daß der Anblick dieses ganzen Leids, bei meinem eigenen angefangen, nicht gerade die ideale Unterhaltung für einen zehnjährigen Jungen und seine achtjährige kleine Schwester ist, auch wenn wir in der Familie die weise Entscheidung getroffen haben, nichts zu verharmlosen.

Wir lassen uns im Beach Club nieder. So nenne ich eine Stelle in den Dünen, die der Sonne und dem Wind ausgesetzt ist und wo die Verwaltung die Freundlichkeit hatte, Tische, Stühle und Sonnenschirme aufzustellen und sogar einige Butterblumen auszusäen, die zwischen dem Unkraut im Sand blühen. In dieser Schleusenkammer am Rand des Strandes, zwischen dem Krankenhaus und dem wahren Leben, kann man träumen, eine gute Fee werde alle Rollstühle in Strandsegler verwandeln. »Spielen wir was? Vielleicht Galgenmännchen?« fragt Théophile, und wenn mein Kommunikationssystem schlagfertige Antworten nicht ausschlösse, würde ich ihm gern antworten, daß es mir schon reicht, den Gelähmten zu spielen.

Der scharfsinnigste Einfall wird stumpf und fällt durch, wenn es mehrere Minuten dauert, ihn vorzubringen. Wenn er dann endlich zur Sprache kommt, versteht man selbst nicht mehr recht, was einem so amüsant daran vorkam, ehe man ihn mühsam Buchstabe für Buchstabe diktiert hat. Ungelegen kommende Geistesblitze müssen also ausgespart werden. Das nimmt dem Gespräch seinen quecksilbrigen Schaum, die Bonmots, die man sich wie einen Ball abwechselnd zuwirft, und dieser erzwungene Mangel an Humor gehört für mich zu den Nachteilen meines Zustands.

Na gut, einverstanden mit dem Galgenmännchen, dem Nationalsport der Siebtkläßler. Ich finde ein Wort, ein weiteres, bleibe dann beim dritten stecken. Tatsächlich bin ich mit meinen Gedanken nicht richtig beim Spiel. Eine Welle von Kummer hat mich überwältigt. Théophile, mein Sohn, sitzt brav neben mir, sein Gesicht ist fünfzig Zentimeter von meinem entfernt, und ich, sein Vater, habe nicht das simple Recht, mit der Hand über sein dichtes Haar zu streichen, ihn in seinen flaumigen Nacken zu zwicken, seinen glatten, warmen kleinen Körper ganz fest zu umarmen. Was soll ich dazu sagen? Ist es ungeheuerlich, ungerecht, eine Sauerei oder entsetzlich? Plötzlich bringt es mich um. Tränen steigen auf, und meiner Kehle entringt sich ein krampfhaftes Röcheln, bei dem Théophile erschauert. Keine Angst, kleiner Mann, ich liebe dich. Immer noch bei seinem Galgenmännchen, beendet er die Partie. Noch zwei Buchstaben, er hat gewonnen, und ich habe verloren. Auf einem Stück Papier zeichnet er den Galgen, den Strick und den Hingerichteten zu Ende.

Währenddessen schlägt Céleste auf der Düne Kapriolen. Ich weiß nicht, ob man darin einen Akt der Kompensation sehen muß, aber seit für mich das Heben eines Augenlids etwas von Gewichtheben hat, ist sie eine regelrechte Akrobatin geworden.

Sie macht Handstand, Kopfstand, Brücke, schlägt Räder und verbindet sie, gelenkig wie eine Katze, mit gefährlichen Sprüngen. Zur langen Liste ihrer späteren Berufe hat sie sogar, neben Lehrerin, Top-Model und Floristin, noch Seiltänzerin hinzugefügt. Nachdem sie mit ihren Pirouetten das Publikum des Beach Club erobert hat, beginnt unser künftiges show-girl eine Gesangseinlage, was Théophile zur Verzweiflung bringt, der nichts mehr haßt, als aufzufallen. Ebenso verschlossen und schüchtern, wie seine Schwester extrovertiert ist, hat er mich an dem Tag von Herzen gehaßt, an dem ich in seiner Schule die Erlaubnis erbeten und erhalten habe, eigenhändig die Glocke zum Beginn des Schuljahrs zu läuten. Niemand kann vorhersagen, ob Théophile ein glückliches Leben haben wird, auf alle Fälle wird er im verborgenen leben.

Mir ist schleierhaft, wie Céleste sich ein solches Repertoire von Sechziger-Jahre-Schlagern zulegen konnte. Johnny, Sylvie, Sheila, Clo-Clo, Françoise Hardy - kein Star dieses Goldenen Zeitalters fehlt beim Appell. Neben den allseits bekannten großen Hits - so unverwüstlichen Evergreens wie dieser Zug von Richard Antony, der nach dreißig Jahren nie wirklich aufgehört hat, in unseren Ohren zu pfeifen - singt Céleste vergessene Schlager, die Wolken von Erinnerungen hinter sich herziehen. Seit der Zeit, als ich diese Single von Claude François, genannt Clo-Clo, auf den Teppaz-Plattenspieler legte, den ich mit zwölf besaß, habe ich seine Pauvre petite fille riche bestimmt nicht wieder gehört. Doch sobald Céleste - ziemlich falsch, übrigens - die ersten Takte dieses Ohrwurms trällert, fällt mir unerwartet präzise jeder Ton, jede Strophe, jede Einzelheit des Chors oder der Orchestrierung wieder ein, bis hin zum Tosen der Brandung, das über der Einleitung liegt. Ich sehe die Plattenhülle vor mir, das Foto des Sängers, sein gestreiftes Hemd mit Button-down-Kragen, das ein unerreichbarer Traum für mich war, weil meine Mutter es vulgär fand. Ich erinnere mich sogar an den Donnerstagnachmittag, an dem ich diese Platte bei einem Cousin meines Vaters kaufte, einem sanften Hünen, der einen winzigen Laden im Untergeschoß der Gare du Nord hatte und dem eine ewige Mais-Gitane im Mundwinkel hing. Si seule sur cette plage, pauvre petite fille riche… Die Zeit ist vergangen, und die Menschen verschwinden allmählich. Mama ist als erste gestorben, dann hat Clo-Clo sich mit einem Stromschlag getötet, und auch der nette Cousin, mit dessen Geschäft es langsam bergab ging, ist abgetreten und hat einen untröstlichen Anhang von Kindern und Tieren hinterlassen. Mein Schrank ist voller Button-down-Hemden, und ich glaube, der kleine Schallplattenladen wurde von einem Pralinenhändler übernommen. Da der Zug nach Berck von der Gare du Nord abfährt, werde ich eines Tages vielleicht jemanden bitten, im Vorbeigehen nachzusehen.