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Ein Umzug ist eine gute Gelegenheit festzustellen, wie viele Freunde man hat. Ich hatte drei: Troll, Lisbeth und meine Oma, die allerdings rein körperlich keine große Hilfe darstellte. Dafür konnte sie wieder einmal zeigen, dass ihre unerschütterliche Ruhe und totale Toleranz unabdingbare Qualitäten in einer Welt sind, in der Menschen wie Troll und Lisbeth aufeinanderprallen. Also in meiner Welt, die sowieso gerade aus einem ziemlichen Durcheinander bestand und deren herausragende Eigenschaft der Mangel war. Mangel an Geld, Einkommen und Liebe. Auch Möbel und Freunde waren nicht im Übermaß vorhanden, und zwei der drei Freunde waren gleich bei der ersten Begegnung wie Hund und Katze, Materie und Antimaterie. Wobei ich nicht so genau weiß, wer von beiden Materie oder Antimaterie war.
Troll jedenfalls trug am Tag meines Umzugs ihr Haar in exakt der Farbe, die die Schutzwesten von Straßenarbeitern oder auch diese kleinen, kegelförmigen Pylonen, die an Baustellen stehen, haben, kombiniert mit grellweißen Reflektorstreifen. Auf Reflektorstreifen hatte Troll verzichtet, aber durch das Neonorange sah sie auch ohne Lichtreflexe aus wie ein Straßenmöbel. Lisbeth blinzelte mehrfach, bevor sie ihre Sprache wiederfand.
»Ich kann Ihnen Sauerstoffbleiche geben«, sagte sie zur Begrüßung. »Damit geht das wieder raus.«
Ich musste mir ein Grinsen verkneifen. Der Pragmatismus meiner Oma ist nichts im Vergleich zu Lisbeths. Ich gratulierte mir wieder einmal zu meiner ersten Angestellten.
Ob Troll sich über die Bemerkung ärgerte oder nicht, ließ sich nicht erkennen, denn sie schleppte gerade eine Palme vorbei, wodurch ihr Gesicht hinter den länglichen Blättern verborgen blieb. Nur die Haarfarbe leuchtete durch das Grün. »Ich kann mich leider nicht revanchieren«, antwortete sie etwas atemlos, denn der Pflanztopf war ziemlich schwer. »Ich kenne weder ein Hausmittel gegen Diallele noch eins gegen Gesichtskannelüren.«
Lisbeth runzelte die Stirn und fragte, was diese Worte zu bedeuten hätten, aber Troll war bereits im Treppenhaus und trug die Pflanze zum Auto.
Natürlich erwartete Lisbeth die Antwort nun von mir, aber ich hütete mich, ihr zu erklären, dass Diallele ein gebildet klingender Ausdruck für einen Fehlschluss ist. Die Art, im Kreis zu denken und nichts dazuzulernen. Ein beliebter Begriff bei den Kreativen von AIQ, die eine Zeit lang das Motto »Kampf der Diallele« auf die große Tafel in ihrer Kreativwerkstatt geschrieben hatten und Kampagnen entwickeln wollten, die die dummen Konsumenten mit unerwarteten Einblicken und Aha-Erlebnissen verblüffen sollten. Ich kann mich nicht erinnern, ob es ihnen gelungen ist. Die Kannelüren musste ich selbst später im Fremdwörter-Duden nachschlagen, um herauszufinden, dass es sich um senkrechte Rillen am Schaft antiker Säulen handelt. Für Lisbeths faltige Haut im Gesicht und am Hals war der Begriff dann doch leicht übertrieben.
Inzwischen versuchte Oma Lisbeth zu erklären, dass die junge Frau ihr Haar vermutlich absichtlich so gefärbt habe.
»Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte Lisbeth und blickte mich an. »Nein. Oder?«
Ich nickte.
»Was hat sie für ein Problem?«, fragte Lisbeth sachlich.
Für Lisbeth besteht die Welt aus Problemen und deren Lösung. Ganz sachlich. Je ein Problem und eine Lösung bilden dabei eine Einheit. Das Leben ist eine Abfolge dieser Einheiten. Problem – Lösung. Nächstes Problem – nächste Lösung. Dabei kann ihre Sachlichkeit einem normalen Menschen mit einem normal dimensionierten Gefühlsleben furchtbar auf den Geist gehen, aber ich benötigte genau so eine Person als verantwortliche Mitarbeiterin. Also versuchte ich, ihr nicht allzu deutlich zu widersprechen.
»Sie hat kein Problem«, sagte ich. »Sie findet das schön.«
Selbst Oma, die wirklich überirdisch tolerant ist, wirkte etwas verunsichert.
Lisbeth überlegte einen Moment.
»Blödsinn«, sagte sie dann.
Zum ersten Mal wurde mir bewusst, wie wenig ich Troll wirklich kannte. Warum kleidete sie sich so auffällig? Warum färbte sie sich die Haare so bunt, dass sie immer auffiel? Oder fiel sie durch ihre mangelnde Größe sowieso auf und war lieber »die Verrückte mit den bunten Haaren« als »die Kleinwüchsige«? Da ich sie bei AIQ, also in einem Stall voller Verrückter kennengelernt hatte, war mir diese Idee früher nie gekommen, aber wenn man sie, wie Oma und Lisbeth, außerhalb der bunten Werbewelt traf, frappierte ihr Äußeres natürlich noch viel mehr. Ich fragte mich, wie sie dieses ständige Aus-dem-Rahmen-Fallen ertrug. Sie konnte vermutlich niemals einfach nur eine unauffällige Person unter vielen anderen sein. Wo immer sie auftauchte, fiel sie auf, und wer sie einmal gesehen hatte, erinnerte sich an sie. Für mich, die jahrelang gekrümmt gegangen war, um nicht überall die Größte zu sein, hatte diese Vorstellung etwas Erschreckendes.
»Ich finde das zwar auch ungewöhnlich, aber sie sieht immerhin nicht ungepflegt aus«, sagte Oma. Ungepflegtes Aussehen ist so ziemlich das Einzige, das sie beklagenswert findet.
»Das wäre ja auch noch schöner«, entgegnete Lisbeth empört.
»Wenn du in dieser Stadt leben willst, solltest du dich wohl besser an solche Anblicke gewöhnen«, schlug Oma mit einem feinen Lächeln vor. »Sonst musst du demnächst jedem zweiten Bewohner Düsseldorfs gute Ratschläge zu seinem Äußeren geben.«
»Ja, ich sollte mich wohl daran gewöhnen, dass der durchschnittliche Bewohner einer Großstadt psychisch ähnlich veranlagt ist wie die Irren, die ich zeitweilig betreut habe. Nur gilt das hier als normal«, erwiderte Lisbeth.
Sie zwinkerte mir dabei heimlich mit einem Auge zu, aber Oma kannte sie gut genug, um zu wissen, dass es ihr mit dieser Bemerkung nicht ernst war. Sie lächelte amüsiert. Vielleicht, weil ihr mein Umzug Spaß machte, vielleicht aber auch, weil Lisbeth endlich nicht mehr bei ihr wohnte.
Damit war das Thema Trolls Haarfarbe fürs Erste erledigt, aber ich wusste, dass Lisbeth Troll in Zukunft aufmerksam beobachten würde, um herauszufinden, warum sie sich so ungewöhnlich zurechtmachte.
Als Nicht-Freund und Vierter im Umzugs-Bunde half mir Greg, der vermutlich von seinem neuen Darling den Auftrag erhalten hatte sicherzustellen, dass ich auch wirklich und wahrhaftig das Feld räumte. In der Hoffnung, ihm den Abschied von mir so schmerzlich wie möglich zu machen, trug ich eine neue Jeans, die ich in freudiger Erwartung weiteren Gewichtsverlusts erstanden hatte und die mir eigentlich noch zu eng war. Ein ebenfalls eng anliegender Pullover ergänzte meine unpassende Bekleidung, außerdem hatte ich Lippenstift aufgetragen, natürlich aus demselben Grund. Greg blickte mich ein paar Mal sinnend von der Seite an, schaute aber immer schnell weg, wenn ich mich ihm zuwandte. Er trug zusammen mit Lisbeth die schweren Sachen, wobei bereits in der dritten Sekunde ihrer Zusammenarbeit unzweifelhaft klar war, wer hier das Sagen hatte. Lisbeths betonten Aufforderungen und ihrem Stirnrunzeln nach zu urteilen, war sie mit seinem Arbeitseinsatz nicht zufrieden. Greg verschwand dann auch, so schnell es ging.
Sobald er weg war, erlöste ich meine gequetschten Bauchfalten aus der Jeans, schälte mich aus dem Pullover und wischte mir den Lippenstift ab. Beim eigenen Umzug gut aussehen zu müssen, ist verdammt anstrengend, und so sehr ich mir gewünscht hätte, dass Greg noch etwas blieb, so erleichtert war ich doch, endlich wieder richtig atmen zu können.
Natürlich war meine Möblierung mehr als dürftig. Ein Bett, einen Kleiderschrank und eine kleine Kommode hatte Lisbeth mir geschenkt. Die Sachen hatten ihrer ältesten Tochter gehört. Genau so sahen sie aus. Da ich allerdings nicht wählerisch sein konnte und Lisbeth ihren verlassenen Mann auch noch dazu verdonnert hatte, die Möbel bei mir anzuliefern, bedankte ich mich artig und schwor mir, eisern zu sparen, um möglichst schnell aus dem Jugendzimmer herauszukommen.