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Der nächste Tag war ein Freitag. Zwölf Tage waren seit dem unseligen Fund in Lauensteins Kühlraum vergangen. Irre Tage, in denen mein Leben komplett auf den Kopf gestellt wurde, in denen ich meinen überschaubaren neuen Freundeskreis auf nahezu null reduziert hatte, in denen ich nicht nur mit einem, sondern garantiert mit beiden Füßen auf dem Weg ins Gefängnis war. Was würde meine Oma zu all dem sagen? »Verscherze es dir nicht mit deinen Freunden, Kind. In harten Zeiten brauchst du sie mehr denn je. Was ist mit Lisbeth? Sie ist nicht nachtragend und es muss schon Schlimmeres passieren, dass sie meiner Enkelin die Freundschaft kündigt. Rede mit ihr.«

Also rief ich Lisbeth an.

»Brauchst du wieder etwas?«, fragte Lisbeth in einem selbst für ihre Verhältnisse schroffen Tonfall.

Ich hatte mir keine Gedanken darüber gemacht, was ich ihr sagen würde, daher antwortete ich spontan: »Ich möchte dich zum Essen einladen.«

Einen Augenblick war es still in der Leitung. »Warum?«, fragte Lisbeth gedehnt.

Mir fielen einige mögliche Antworten ein, ich entschied mich für: »Ein Drittel Dankeschön, ein Drittel leibliche Bedürfnisse, ein Drittel Bestechung.«

»Ein Punkt für Ehrlichkeit«, sagte Lisbeth. »Aber ich komme nur unter einer Bedingung mit.«

»Akzeptiert«, sagte ich.

»Du kennst doch die Bedingung noch gar nicht.«

»Egal«, entgegnete ich. »Ich akzeptiere alles.«

»Du erzählst mir die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit.«

Den Spruch hatte sie sicher auch wieder aus einem amerikanischen Spielfilm, aber ich versprach ihr, was sie wollte.

Wir trafen uns um eins in einem kleinen spanischen Restaurant, das Lisbeth ausgesucht hatte. Die Zeit bis dahin hatte ich vornehmlich damit verbracht, E-Mails zu lesen, den Anrufbeantworter abzuhören, Kunden zurückzurufen und mehrmals auf der Internetseite zu überprüfen, ob das Foto noch drauf war. Es war.

»Also«, sagte Lisbeth, nachdem sie kanarischen Kichererbseneintopf mit dem schönen Namen ropa vieja, für zwei bestellt hatte.

»Was bedeutet ropa vieja?«, fragte ich, um Zeit zu schinden.

»Alte Wäsche.«

Das passte. Genau so fühlte ich mich.

»Und jetzt erzähl. Was ist los?«

Ich seufzte. Wo sollte ich bloß anfangen?

»Wann war der letzte normale Tag in deinem Leben?«, fragte Lisbeth.

Eine gute Frage. Ich ließ die letzten Wochen vor meinem geistigen Auge Revue passieren. Da fiel mir auch Lisbeths Krankheit ein, nach der ich mich nie mehr erkundigt hatte. Langsam bekam ich den Eindruck, dass ich wirklich das egoistische Monster war, als das Tabea mich sah. Ich erkundigte mich nach Lisbeths Gesundheitszustand, aber sie winkte ab.

»Das ist nicht der Rede wert, mein Kind.«

Ich beschloss, ihr diese Anrede auch in Zukunft durchgehen zu lassen, Chefin hin oder her. Es tat mir einfach gut, von jemandem, der seine schützende Hand wohlmeinend über mich hielt, so genannt zu werden. Oma hatte dieses Recht immer schon gehabt, jetzt hatte sich auch Lisbeth als würdige Beschützerin erwiesen. Ich lächelte.

Dann sammelte ich mich und erzählte ihr alles. Von Anfang an. Lisbeths Mienenspiel war oskarwürdig.

»Du hast den Toten in deinem Auto herumgefahren? Drei Tage lang?«

Ich nickte.

»An dem Tag, als du Herrn Metzenrath zu Weber hättest fahren sollen, hattest du eine Leiche im Kofferraum?«

Ich nickte.

»Während wir in meiner Küche saßen?«

Ich nickte.

»Bei der Fernsehaufzeichnung…?«

Wieder nickte ich. Lisbeth wurde blass. Ich erzählte schnell weiter, von Lauensteins Besuch am Sonntagmorgen, der ihr ein zufriedenes Hab-ich-es-nicht-gesagt-Gesicht entlockte und von Tabeas und meinem Ausflug nach Belgien, der sie sichtlich erschütterte.

»Tabea?«, fragte Lisbeth mit einer steil in die Höhe gezogenen Augenbraue.

»Das ist ihr richtiger Name. Nicht Troll.«

»Ihr habt euch gestritten.«

Das war eine Feststellung, keine Frage. Ich nickte, meine Nase tief über den Teller mit dem hervorragenden Kichererbseneintopf gebeugt.

»Worüber?«

»Sie hat sich in mich verliebt und ich habe sie im wahrsten Sinne des Wortes von der Bettkante geschubst«, murmelte ich.

»Ja«, erwiderte Lisbeth ungerührt, »das habe ich kommen sehen.«

Ich starrte sie an.

»Ich habe gleich bemerkt, dass Tabea Frauen bevorzugt«, sagte Lisbeth. »Und dass sie sich so für dich eingesetzt hat, muss ja auch einen Grund gehabt haben, oder? Mit einem kleinen bisschen Menschenkenntnis sieht das doch jeder.«

»Aha.« Mit meiner Menschenkenntnis war es offenbar nicht sehr weit her, denn ich hatte sowohl Tabea als auch Lisbeth völlig falsch eingeschätzt. Natürlich hatte ich bei AIQ die Andeutungen über Tabeas Liebesleben gehört und mir meine Gedanken gemacht, aber ich hatte das nie mit mir selbst in Verbindung gebracht. Und ich hatte nie hinterfragt, warum Tabea das alles für mich tat. Es war mir ganz natürlich erschienen. Dass ausgerechnet Lisbeth vom Lande jetzt hier saß und weltläufig über die homosexuellen Neigungen meiner ehemals besten Freundin sprach, beschämte mich sehr. Ich erkannte, dass ich noch viel von ihr lernen konnte.

»War das die ganze Geschichte?«, fragte Lisbeth.

Ich schüttelte den Kopf und erzählte das bisher letzte Kapitel.

Lisbeth hatte inzwischen ihre Gelassenheit wiedergefunden und lauschte meinen Worten mit unbewegter Miene. Als ich geendet hatte, nickte sie. »Das erklärt einiges.«

Ich wischte den Teller mit dem Rest Brot sorgfältig ab und konzentrierte mich ganz auf diese Beschäftigung. Irgendwann war das Porzellan aber wirklich rückstandsfrei sauber und ich musste reagieren. »Was erklärt es?«

»Die Tatsache, dass mir heute Morgen zwei Kunden ans Herz gelegt haben, die Werbestrategie zu überdenken, sonst würden sie ihren Auftrag kündigen.«

»Wer?«, fragte ich.

Sie nannte zwei Namen. Der eine war ein ranghohes Tier bei einer Privatbank, der andere ein selbstständiger Unternehmens- und Finanzberater. Seriöse Männer. Zumindest genossen sie einen solchen Ruf, und ich ging davon aus, dass sie den unter allen Umständen verteidigen würden.

Diese Situation hätte mich schon normalerweise nicht vor Begeisterung vom Hocker gerissen, aber jetzt hatte ich den Eindruck, man würde mir den Boden unter den Füßen wegreißen.

Lisbeth bemerkte, wie meine ohnehin hängenden Schultern noch einige Zentimeter weiter absackten, denn sie langte über den Tisch und tätschelte meine Hand. Ich blickte sie dankbar an.

»Es ist nicht gut, dass du in dieser Situation vollkommen von Tabea abhängig bist«, sagte Lisbeth nachdenklich.

Damit hatte sie das Hauptproblem schön beschrieben.

»Ich habe eine Idee«, fuhr sie nach einigen Minuten Schweigen fort.

Das war genau das, was ich hören wollte. Ich setzte mich etwas gerader hin und lauschte ihren Ausführungen. Meine Stimmung besserte sich mit jeder Minute, mein Kampfgeist kam zurück. Nach dem delikaten, kräftigenden Essen und einem schnellen Kaffee verabschiedete ich mich von Lisbeth mit einer festen Umarmung und düste nach Hause. Es gab einiges zu tun.

Unter der normalen Festnetznummer meldete Lauenstein sich nicht, also probierte ich die Mobilnummer, die er angegeben hatte.

»Beerdigungsinstitut Lauenstein, wie kann ich Ihnen helfen?« Das war seine Stimme. Ganz sicher. Er hatte ein Beerdigungsinstitut? Warum war ich nicht früher darauf gekommen? Die gravierte Steinplatte über seinem Kamin, die seltsamen Statuen in seinem Garten und die Laternen auf der Terrasse waren Grabsteine, Grabmäler und ewige Lichter. Und er umgab sich mit diesem Kram in seinem Zuhause. Gruselig. Dabei hatte er an dem Sonntagmorgen in Jeans und Pullover ziemlich normal gewirkt.