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Stundenlang tigerte ich in der Wohnung auf und ab, anstatt an meiner Entschuldigung für Tabea zu arbeiten. Fast hätte ich den Sendetermin des Regionalfensters verpasst, in dem der Beitrag über den kriminellen Hackerangriff auf die Schmutzengel gesendet wurde. Die Anmoderation lief bereits, als ich bei Herrn Metzenrath klingelte, denn ich besaß noch immer keinen eigenen Fernseher.

Der Bericht begann mit einer kurzen Sequenz aus der vorigen Sendung, in der die Schmutzengel vorgestellt wurden. Dann kam eine Großaufnahme des leidigen Internet-Fotos ins Bild. Aus dem Hintergrund erläuterte Heidi die haarsträubende »Werbe«-Aktion einschließlich gefälschter E-Mail an meine Kunden, dann wurde ein Interviewblock mit mir dazwischengeschoben. Ich berichtete über die Erfolge, die die Schmutzengel in den letzten Wochen vorzuweisen hatten, die wahre Flut an Aufträgen, die Tatsache, dass ich bereits einen Arbeitsplatz geschaffen hatte und weitere bald folgen würden. Danach wurde es spannend. Hinter mir wurde plötzlich eine schwarze Silhouette eingeblendet, dramatische Musik ertönte und eine Stimme ratterte ein paar statistische Zahlen über Kriminalität im Internet runter. Dann kam Lauenstein ins Bild. Ja, auch er sei ein Opfer, denn das manipulierte Foto zeige den Namen seines Beerdigungsinstituts. Nein, er sei sicher, dass zu keiner Zeit eine Leiche in einem Teppich vor seiner Tür gelegen habe. Ich hörte gar nicht mehr auf das, was er sagte. Ich sah nur noch ihn. Lauenstein sprach vollkommen ruhig, aber nicht salbungsvoll. Seine Wangen waren nicht gerötet, die Stirn war trocken. Er saß in einem geschmackvoll eingerichteten Büro am Schreibtisch und er machte eine unerwartet gute Figur. Eine ganz hervorragende Figur sogar. Er betonte, dass die Schmutzengel erstklassige Arbeit leisteten und weiterhin sein uneingeschränktes Vertrauen besäßen. Öffentlich. Im Fernsehen. Ich war sprachlos.

Lisbeth rief noch während des Abspanns an. »Was hast du dem Mann geboten?«, fragte sie.

»Nichts.«

»Hm.« Ich glaubte, einen anzüglichen Unterton in diesem Hm hören zu können, aber sie führte das Thema nicht weiter aus. »Damit ist die Sache aus der Welt.«

»Jetzt muss ich nur noch Tabea besänftigen«, sagte ich.

Allerdings hielt ich diese Aufgabe für deutlich schwieriger, als die Weltöffentlichkeit mit einer Fernsehsendung gnädig zu stimmen.

Tabea machte es mir nicht leicht. Sie nahm keinen meiner Anrufe entgegen, aber ich kündigte einfach meinen Besuch für Sonntagvormittag auf ihrem Anrufbeantworter an. Ich ging früh zu Bett, denn ich fühlte mich immer noch recht schlapp. Am Sonntagmorgen erwachte ich zum ersten Mal seit Wochen ausgeruht und unternehmungslustig, machte mir einen Kaffee und aß ein Müsli.

Während des Frühstücks genehmigte ich mir die Lektüre des Anzeigenblättchens, dann noch eine zweite Tasse Kaffee, aber irgendwann musste ich mir eingestehen, dass ich lediglich Zeit schinden wollte. Entschlossen räumte ich den Frühstückstisch ab, holte meine dicke Daunenjacke und eine Mütze aus dem Schrank und machte mich auf den Weg zu Tabeas Wohnung. Zu Fuß.

Schon nach einer halben Stunde bemerkte ich, dass ich meine Kräfte überschätzt hatte. Trotzdem genoss ich den Spaziergang unter einem klaren, blauen Himmel. In den letzten Wochen war ich immer weniger an die frische Luft gekommen, das musste ich unbedingt ändern. Schon wieder ein guter Vorsatz. Ich grinste. Immer hatte ich mich geweigert, das neue Jahr mit guten Vorsätzen zu belasten, aber nun fasste ich innerhalb weniger Tage gleich einen ganzen Berg davon.

Tabea öffnete nicht. Jedenfalls nicht nach dem ersten, dem zweiten oder dem dritten Klingeln. Ich ging eine Runde um den Block und drückte zwanzig Minuten nach dem ersten Versuch erneut auf den Knopf. Dann noch einmal. Endlich knackte es in der Gegensprechanlage.

»Ja bitte?«

»Ich bin’s, Corinna. Ich bin gekommen, um dich um Entschuldigung zu bitten.«

Es knackte wieder.

Die Tür blieb zu.

Ich klingelte erneut.

»Ja?«

»Bitte mach auf, Tabea. Ich meine es ernst. Ich weiß, was ich falsch gemacht habe, und es tut mir sehr leid.«

»Hast du etwas zu essen dabei?«, fragte Tabea durch die knisternde Gegensprechanlage.

»Nein.«

»Zwei Ecken weiter ist eine Bäckerei. Bring mir ein Croissant und ein Mürbchen mit Rosinen mit.«

Die Gegensprechanlage knackte wieder.

Ich hatte eiskalte Füße, musste dringend aufs Klo und fand diese Spielchen blöd, aber ich wollte Tabea nicht verlieren. Das war mir in den letzten vierundzwanzig Stunden sehr klar geworden. Sie war meine beste Freundin, meine wichtigste Ratgeberin und der Farbklecks in meinem konventionellen Spießerleben.

Ich ging zur Bäckerei und stand kurz darauf wieder an Tabeas Gegensprechanlage.

»Ja?«

»Ich habe das Gebäck besorgt und muss aufs Klo. Bitte mach auf!«

Der Türdrücker summte und ich tastete mich vorsichtig durch das halbdunkle Treppenhaus bis unter das Dach. Die Wohnungstür stand offen, Tabea lehnte an der Wand.

»Zum Klo geht’s da lang«, sagte sie und zeigte nach rechts.

Ich drückte ihr die Brötchentüte in die Hand, schälte mich aus der Jacke und verschwand erst mal auf der Toilette. Als ich in das einzige Zimmer des Siebzig-Quadratmeter-Dachbodens trat, hockte Tabea mit untergeschlagenen Beinen auf einem vier Meter langen Sofa, das sie, wie ich inzwischen weiß, aus dem Fundus des Schauspielhauses ersteigert hatte. In einer Ecke des Zimmers lag eine Matratze auf dem Boden, es gab eine kleine Küchenzeile und einen Tisch mit vier unterschiedlichen Stühlen sowie einen Fernseher, eine Stehlampe und ein Regal, in dem sie ihre Klamotten aufbewahrte. Das war alles. Kein Schrank, keine Kommode, keine Stereoanlage, keine Lautsprecher, kein Schreibtisch, keine Garderobe. Die Wohnung sah sauber und ordentlich aus. Von dem kreativen Chaos, das ich erwartet hatte, war nichts zu sehen.

Auf einem Tablett auf dem Sofa standen eine Kanne, zwei Tassen, zwei Teller und die Brötchentüte. Tabea riss die Tüte auf, legte ihr Croissant und ein Mürbchen auf ihren Teller und begann zu essen. Ich schenkte uns beiden Kaffee ein, nahm meine Tasse in beide Hände und wärmte mich daran. Ich war nervös.

»Es tut mir leid«, begann ich.

»Was genau tut dir leid?«, fragte Tabea.

Ihr Gesichtsausdruck war kaum zu erkennen, da sie mit dem Rücken zum Fenster saß und ich ins Licht schauen musste. Ich ließ mich nicht beirren.

»Ich war ein egoistisches Biest.«

»Definiere egoistisches Biest.«

»Du hast mir so viel geholfen, hast mir deine Zeit und deine Ideen geschenkt und die Werbung für die Schmutzengel, und ich habe mich nie revanchiert. Ich habe dir mein Herz ausgeschüttet, aber nie gefragt, wie es dir eigentlich geht. Ich habe dich nie gefragt, ob das popelige Honorar, das ich dir angeboten habe, angemessen ist. Ich fand es völlig normal, dass du immer kamst, wenn ich dich brauchte, hatte aber für dich keine Zeit.«

Ich musste Luft holen und trank einen Schluck Kaffee.

»Weiter«, forderte Tabea.

»Ich habe dir selten gedankt und dir nie gesagt, dass du meine wichtigste und beste Freundin bist.«

»So etwas muss man nicht unbedingt sagen«, sagte sie. Ihre Stimme klang etwas weicher als eben.

»Ich habe die Wertschätzung auch nicht anderweitig zum Ausdruck gebracht.«

Tabea schob sich das Croissant in den Mund, ich biss in mein Rosinenmürbchen und spülte mit einem Schluck Kaffee nach. Fast hätte man meinen können, dass alles wieder gut war.

Fast.

»Was ist mit Sonntagabend?«, fragte Tabea leise.

Darauf hatte ich gewartet. Jetzt wurde es richtig schwer.

»Es tut mir leid, dass das passiert ist«, sagte ich vorsichtig. »Ich hab gar nicht groß nachgedacht und reflexartig reagiert.«