Sie sog hörbar die Luft ein.
»Ich fühlte mich so ausgeliefert und hilflos, und du hast meine Schwäche ausgenutzt und eine Grenze überschritten. Dazu hattest du kein Recht. Verstehst du das?« Ich rang nach Worten und wusste, dass diese Worte entscheidend sein würden für unsere weitere Beziehung.
»Und ich bin auch noch eine Frau«, sagte Tabea.
Ich schüttelte heftig den Kopf. »Das hat damit nichts zu tun.«
»Glaub ich doch.«
»Nein. Ich hätte genau gleich reagiert, wenn du ein Mann gewesen wärst.«
Sie schwieg. Lange. Auch ich wusste nichts zu sagen, also hielt ich den Mund. Es war kein angenehmes Schweigen. Ich hielt die Spannung nicht aus und stand auf. Wollte gehen.
»Dein Fernsehauftritt gestern war einsame Spitze«, sagte Tabea plötzlich. »Du hast viel gelernt.«
Ohne sie anzusehen konnte ich hören, dass sie lächelte.
»Von dir«, erwiderte ich rasch.
»Gute Besserung«, sagte sie, und jetzt hörte es sich eher an, als weine sie.
»Danke«, entgegnete ich und ging.
Der zweite Fernsehauftritt brachte einen weiteren Schwung neuer Aufträge mit sich, den Lisbeth nicht mehr allein bewältigen konnte. Hilfe kam in Gestalt einer jungen Frau aus Lisbeths Hauswirtschaftskurs, die ich sofort einstellte. So vergingen die Wochen mit Arbeit und Arbeit und noch mal Arbeit. Zum Glück kehrte irgendwann eine gewisse Routine ein. Unser Kundenstamm wuchs jetzt nur noch langsam, sodass wir mit der Organisation gut Schritt halten konnten. Es gab eine wöchentliche Besprechung, zu der Lisbeth, Herr Metzenrath, die neue Mitarbeiterin Pauline und ich uns morgens im Büro trafen, miteinander frühstückten und die aktuellen Fälle besprachen.
Herr Metzenrath entwickelte ein gesteigertes Interesse an Lisbeth, aber sie gab ihm klar zu verstehen, dass eine neue Beziehung für sie nicht infrage kam. Er trug es mit Fassung.
Tabea hatte den Internetauftritt gleich nach unserem gemeinsamen Frühstück wieder in Ordnung gebracht, aber nichts von sich hören lassen. Ich hatte sie einmal kurz angerufen, aber mehr als ein paar belanglose Sätze hatten wir nicht gewechselt. Sie hatte keine Zeit. Immerhin war der Ton nicht mehr feindselig gewesen.
Auch Greg hatte sich gemeldet, aus ganz praktischen Gründen. Wegen eines Versehens bei meiner Krankenversicherung war die neue Versichertenkarte an meine alte Adresse geschickt worden, und Greg wollte nun wissen, ob er sie mir per Post zuschicken oder bringen solle. Die Brisanz der Frage fiel mir erst später auf, denn just in dem Moment kam noch ein weiterer Anruf herein. Ich rief Greg schnell zu, er solle mir die Karte zuschicken, dann nahm ich das Kundentelefonat an.
Warum hätte er mir meine Versichertenkarte bringen sollen? Warum, wenn nicht aus dem Grund, dass er mich sehen wollte?
Diese Frage beschäftigte mich zunehmend, denn je besser die Arbeit lief, desto mehr Zeit hatte ich plötzlich wieder für mein Privatleben. Für mein nicht existierendes Privatleben.
Eine meiner ersten Freizeitaktivitäten bestand darin, den Anweisungen des Stiltrainers zu folgen und meinen Kleiderschrank auszumisten. Ich sortierte meine gesamte Kleidung auf zwei Stapel. Schwarze Hosen und Jacketts, weiße Blusen und alles in knalligen Farben wie Rot, Orange oder Grün landeten im Altkleidersack. Übrig blieb eine sehr kleine Menge an Jeanshosen, hellblauen Blusen und Oberteilen in gebrochenem Weiß. Ich zählte genau drei Hosen und sechs Oberteile. Ich seufzte. Damit würde ich nicht über die Runden kommen. Ich brachte die aussortierten Teile zu einem gemeinnützigen Kleiderladen und klapperte an einem einzigen Samstag mindestens fünfzehn Geschäfte nach dunkelblauen Businesskostümen und bezahlbarer Freizeitkleidung ab. Kurz bevor ich frustriert aufgeben wollte, weil ich mir die unglaublichen Preise für einigermaßen angemessene Geschäftskleidung nicht leisten konnte, bekam ich den Tipp, es im Secondhandladen zu versuchen.
Noch nie in meinem Leben hatte ich Gebrauchtkleidung gekauft, aber angesichts der Differenz zwischen meinem Bedarf und meiner Finanzlage wollte ich einen Versuch wagen. Bingo! Drei Kostüme, sieben Blusen, zwei Pullover und drei Jeans sprangen für mich raus. Die Kostüme sahen aus, als wären sie überhaupt nie getragen worden. Sie kosteten noch nicht einmal ein Zehntel des normalen Preises.
»Wo ist der Haken?«, fragte ich die Inhaberin, die mir bei der Auswahl half.
»Die Schnitte sind nicht mehr ganz modern«, erklärte sie mir und zeigte auf die Reversform oder den Rocksaum. Na, wenn’s weiter nichts ist, dachte ich mir und verließ mit meiner Beute den Secondhandladen als glückliche Frau. Endlich hatte ich die zu mir und meiner Selbstständigkeit passende Kleidung – und zwar in Größe achtunddreißig. Zwar war der Grund meines Gewichtsverlusts mehr als unangenehm gewesen, aber das Ergebnis gefiel mir. Ich schwor mir, dieses Gewicht zu halten und meldete mich auch gleich in einem Fitness-Studio an, um dort zweimal wöchentlich die angebotenen Aerobic- und Pilateskurse zu besuchen.
Jetzt fehlte nur noch eins: eine neue Frisur.
Bewaffnet mit dem Ausdruck, den Byrone mir von der computeranimierten Frisur gemacht hatte, begab ich mich mit klopfendem Herzen in die Hände einer Stylistin, die mein dünnes Haar immer wieder knetete, einen prüfenden Blick auf das Bild in ihrer Hand warf und mir dann mit strahlendem Lächeln erklärte, dass das alles machbar sei. Eine gefühlte Ewigkeit später hielt sie mir den Spiegel so, dass ich den von Byrone so gelobten Hals vom Haaransatz bis zum vierten Halswirbel in seiner ganzen Blöße betrachten konnte. Ich fühlte mich nicht nur von sieben Zentimetern Haarlänge, sondern generell von einer schweren Last befreit und gab ihr ein Trinkgeld, das ich mir kein zweites Mal würde leisten können.
Mein Leben hätte nun schön und erfüllt sein können. Tagsüber arbeitete ich fleißig und engagiert für die Schmutzengel, abends ging ich spazieren oder zum Sport, gelegentlich auch ins Kino oder mit Lisbeth ins Theater. Meistens allerdings saß ich zu Hause und las. Ich fühlte mich jung, gesund und erfolgreich, aber allein. Ich aß allein, schlief allein ein und wachte allein auf. Ich ging allein spazieren, allein ins Kino und nie in eine Kneipe, denn das traute ich mich allein nicht. Ich traf einige interessante Männer, die meine Kunden wurden, aber ich redete mir ein, dass geschäftliche und private Beziehungen niemals zu mischen seien. Tatsächlich war es so, dass ich es gar nicht gewagt hätte, den ersten Schritt zu einer tiefer gehenden Beziehung zu unternehmen, und von den besagten Herren schien sowieso keiner Interesse an einer privaten Bekanntschaft mit mir zu haben. Und ich wäre ja auch gar nicht bereit dazu gewesen, denn ich hing ja immer noch an Greg.
An meinem Plan, ihn zurückzuerobern, hielt ich eisern fest.
So weit kam es Gott sei Dank nicht, denn der Himmel schickte mir ein Zeichen.
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Jedes Jahr verleiht ein ortsansässiger Wirtschaftsverlag den Wirtschafts-Oscar an Menschen, die sich in ihrem Geschäftsfeld besonders profiliert haben. Die Auszeichnung wird in unterschiedlichen Sparten vergeben, vom gelungensten Generationswechsel über den wichtigsten Mitarbeiter bis zum innovativsten Start-up. In jeder Kategorie werden fünf Personen oder Unternehmen nominiert. Die Schmutzengel waren eines davon.
Mir fiel fast das Schreiben aus der Hand, das ich zuerst für Werbung gehalten und beinahe weggeworfen hatte. Da wollte mich jemand auf den Arm nehmen! Ich las den Brief noch einmal gründlich: Kein Zweifel, dort stand es schwarz auf weiß: Zusammen mit vier weiteren Unternehmen, zwei aus der Werbung, eins aus dem IT-Bereich und eins aus dem Bereich »Dienstleistungen für medizinische und paramedizinische Kompetenzbildung«, waren die Schmutzengel in der Kategorie des innovativsten Start-ups nominiert. Man werde sich in den nächsten Tagen telefonisch bei mir melden. Termin der Preisverleihung: fünfter Juni.