Frau Dierenbacher-Schulz warf einen Blick in meine Unterlagen. Ihre Gesichtshaut kräuselte sich auf der Stirn zu einer hauchfeinen Runzel. »Sie haben Kalkulationen erstellt und Budgets überwacht, entnehme ich ihrem Zeugnis?«
»Ja.«
Die kurze Antwort stellte niemanden zufrieden, auch mich nicht. Aber ich wusste beim besten Willen nicht, was ich hätte hinzufügen können. Der schwarze Mann hatte inzwischen die Augen geschlossen und massierte sich mit Zeigefinger und Daumen der rechten Hand die Nasenwurzel. Er trug einen riesenhaften, goldenen Siegelring.
»Hat Ihnen die Arbeit Spaß gemacht?« Der Tonfall hatte an Schärfe zugelegt.
Ich nickte. »Auf jeden Fall.« Ich hörte selbst, wie lahm das klang. »Ich habe auch die Pflanzen gepflegt.«
Mist! Die Pflanzen hatte ich auf keinen Fall erwähnen wollen. Wieso waren mir die jetzt herausgerutscht?
Frau Dierenbacher-Schulz erhob sich. »Danke, dass Sie gekommen sind, Frau Leyenbäcker.«
»Leyendecker«, murmelte ich.
»Wir werden uns in den nächsten Tagen bei Ihnen melden.«
Der schwarze Mann hatte die Augen nicht wieder geöffnet und stellte sich tot, also schüttelte ich nur eine Hand und verließ den Ort meiner Demütigung so schnell ich konnte.
Ich begab mich ins nächste Café, bestellte Cappuccino und Kuchen, trank den Cappuccino und ließ den Kuchen zurückgehen. Heulend. Ich bestellte einen zweiten Cappuccino und zog Bilanz. Ich hatte mich in meinem ganzen Leben noch nie auf eine richtige Arbeitsstelle beworben, nur damals auf den Ausbildungsplatz. Offenbar benötigte ein solcher Termin eine ordentliche Vorbereitung. Daran sollte ich arbeiten. Außerdem war ich sicher, dass es besser liefe, wenn ich mich in meiner Haut und der darüber getragenen Kleidung wenigstens einigermaßen wohlfühlte. Ich bezahlte die Getränke und den nicht gegessenen Kuchen, prüfte den Füllstand meines Portemonnaies und ging einkaufen. Eine schwarze Hose, sehr modisch geschnitten, einen schwarzen Pullover, sehr modisch geschnitten, sowie eine lange Kette mit großen Glasperlen, ebenfalls in Schwarz. Ob man bei Ketten von einem modischen Schnitt sprechen kann, entzieht sich meiner Kenntnis, aber immerhin war diese Art Accessoire gerade sehr angesagt. Und farblich entsprach ich voll und ganz dem Dresscode der Branche.
Das zweite Vorstellungsgespräch lief schon viel besser, obwohl ich die halbe Nacht davor nicht schlafen konnte, weil Sue und Greg ihren ersten Streit hatten, der mit einem Schrei begann. Einem Schrei wie von jemandem, der Tante Hildegard am Dachbalken findet. Dann ging der Streit richtig los, wobei ich durch die Wand nicht verstehen konnte, worüber die beiden stritten.
Das Gezeter dauerte ungefähr eine halbe Stunde, dann klingelte es an der Wohnungstür. Ich fühlte mich nicht zuständig, mich um den nächtlichen Besucher zu kümmern, und schlief angesichts der plötzlich eintretenden Stille ein. Aber ich schlief schlecht. Ich träumte von Tante Hildegard, die nicht meine Tante war, die ich niemals gesehen hatte und die doch seit geraumer Zeit durch mein Bewusstsein geisterte. Ich träumte auch von meinem bisher einzigen Vorstellungsgespräch, das katastrophal schlecht gelaufen war und das sich in meinen Träumen zu einer wahren Blutorgie steigerte, als das Panzernashorn vier Püppis und die Personalleiterin mit dem Vierfachnamen und dem Endlostitel auf sein Horn spießte und mit einem Strauß Orchideen garnierte. Und irgendwie war auch Sue unter den Opfern.
Ich war unausgeschlafen und sah auch so aus, als ich zu meinem nächsten Vorstellungsgespräch erschien. Immerhin hatte ich einen Kaffee und ein klitzekleines Eckchen von einem Croissant zu mir genommen, bevor mein Schaulaufen begann.
Wieder ließ man mich im Empfangsbereich sitzen und wieder schien es mir, als käme jede Vollzeit-, Teilzeit- und Aushilfskraft einmal vorbeigewieselt, um mich in Augenschein zu nehmen. Meine Aufregung ließ allerdings in dem Maße nach, in dem ich Gesprächsfetzen der Schicken und Hippen aufschnappte.
»… immerhin ist es non-profit, das ist ein Challenge, das kann man nicht einfach so aus dem Ärmel schütteln…«
»… Projekte in der Pipeline, die wir zeitnah forecasten und hopefully realisieren.«
»… im Yellow-Press-Benchmark haben wir starke Assets, wenn nicht sogar die Leadership, das müssen wir in der Q-and-A-Session herausstellen…«
»… wir müssen den USP am POS definieren, dann brauchen wir ein heißes Tool …«
Solchen Schwachsinn war ich von AIQ gewohnt, das belastete mich nicht mehr. Vielmehr war ich ein bisschen enttäuscht, dass hier derselbe Schwall heißer Luft durch die Flure wehte wie in der deutlich provinzieller wirkenden Mini-Agentur, in der ich mehr als zehn Jahre meines Lebens verbracht hatte.
Oder vergeudet hatte?
Der Gedanke überfiel mich einfach so und verwirrte mich. Warum vergeudet? Bis zu meiner Kündigung war es mir doch gut gegangen, oder nicht? Ich hatte meine Arbeit gern gemacht und ich war bestens in dem, was ich tat. Mit meiner Kollegin Susanne verstand ich mich gut. Auch mein Privatleben war zufriedenstellend gewesen. Oder?
»Frau Leyendecker, herzlich willkommen. Ich hoffe, ich habe Sie nicht zu lange warten lassen.«
Der so schön daherredete, sah auch gut aus, duftete gut, wenn auch ein kleines bisschen zu aufdringlich, und legte sogar ansprechende Manieren an den Tag. Er hätte meiner Oma sicher gefallen. Der Gedanke brachte mich schon wieder aus dem Konzept.
»Was hat Sie denn bewogen, sich gerade bei uns zu bewerben?«, fragte er, als wir in seinem Büro saßen. Seinen Namen hatte er mir bisher nicht mitgeteilt und ich konnte mich auch nicht daran erinnern, dass in der Einladung der Name meines Gesprächspartners gestanden hätte. Der Mann ohne Namen hatte inzwischen Kaffee in Designertassen servieren lassen, bei denen ich nicht recht wusste, ob das geschwungene Ding am Rand der Tasse der Henkel sein sollte. ER lehnte sich in seinem schwingenden Lederstuhl so weit zurück, dass ich in seine Nasenlöcher schauen konnte. Das linke Bein hatte ER angewinkelt und auf das rechte Knie gelegt. Seine Beine waren rasiert. Vielleicht hätte ER meiner Oma doch nicht so gut gefallen.
»Sie haben einen sehr guten Ruf in der Branche«, brachte ich hervor, obwohl ich innerlich die Augen verdrehte. Wie konnte man nur solch eine blöde Frage stellen? Ich war gekündigt, er hatte eine Stellenanzeige in der Zeitung geschaltet, da hätte es schon einen wirklich triftigen Grund geben müssen, damit ich mich nicht bei ihm bewerbe.
»Denken Sie an eine besondere Kampagne, die Ihnen gefallen hat?«, fragte Herr Streich-mir-Honig-ums-Maul-Liebchen.
Zum Glück hatte Troll mich auf solche und ähnliche Fragen vorbereitet und mir eine erstklassige Einweisung gegeben. Bei dem Gedanken an das Wort »Einweisung« musste ich mir ein Grinsen verkneifen. Das sollte man mit dem Typ auch mal machen. Ihn einweisen. Ich unterdrückte die vollkommen unpassende Heiterkeit, sammelte mich und beantwortete seine Frage. »Besonders gelungen fand ich die Windelwerbung mit den Babys unterschiedlicher ethnischer Herkunft. Sehr integrativ.« Meine Antwort folgte Trolls Vorgabe: Kurzbeschreibung der Kampagne in fünf neutral formulierten Worten. Die subjektive Bewertung enthält maximal zwei Adjektive und fällt immer positiv aus. Egal wie bescheuert die Kampagne war.
Der Wichtigtuer grinste ein selbstgefälliges Grinsen. Ich verbuchte einen Punkt für mich.
»Auch der Spot für die Partnerzahnpasta war überraschend und witzig.« Kurzbeschreibung und zwei Adjektive. Die Formel war der Hit, das Ego meines Gegenübers blähte sich weiter auf.
Ich hatte diesen Spot für die Zahnpastatube, die an beiden Enden eine Tülle mit Verschlusskappe hat, ein einziges Mal gesehen. Damals hatte ich mit offenem Mund gestaunt, für wie doof man die Kundschaft noch verkaufen könnte, bevor die Zähneputzer der Nation sowohl den Tubenhersteller als auch den Werbeverantwortlichen lynchen und öffentlich am höchsten Gebäude der Stadt aufhängen würden. Diese Meinung hatte ich Troll nicht verheimlicht, aber sie hatte mich ausgelacht. Natürlich sei die Zahncremetube nicht benutzerfreundlich und natürlich sei auch der Spot ziemlich dämlich, aber das habe nichts damit zu tun, dass die Kampagne eben doch wegweisend sei. Punkt. Ich verkniff mir die Frage, wohin dieser Weg wohl weisen würde. Zum Glück konnte Troll jeder Kampagne, die in den letzten fünf Jahren gelaufen war, sofort die korrekte Agentur zuordnen, die sie kreiert hatte. Ich hatte noch nie darauf geachtet, wäre also für die Vorstellungsgespräche ohne meine Beraterin schlecht gerüstet gewesen. Ich dankte Troll im Stillen für ihre geduldigen Unterweisungen.