Jetzt saß ich also im Büro dieser Mensch gewordenen Demonstration männlicher Eitelkeit und warf ihm artig die vorgekauten Häppchen hin, mit denen er sein Selbstwertgefühl aufpäppeln konnte. Bitte, wenn’s mir zu einem Job verhilft, dachte ich.
Tat es aber nicht. Die Absage kam drei Tage später, man habe sich für eine andere Bewerberin entschieden und bitte mich, dies nicht als Entscheidung gegen mich aufzufassen. Schon wieder so ein unsäglicher Schwachsinn. Langsam wurde ich es leid.
»Ich habe siebzehn Praktika absolviert und vor jedem einzelnen standen im Schnitt zehn Bewerbungsgespräche«, erklärte Troll mir reichlich ungerührt, als ich ihr mein Leid klagte. »Du hast einfach zu wenig Übung und siehst die Sache zu eng. Man sollte ein solches Vorstellungsgespräch nicht zu ernst nehmen, sonst wird es mühsam.«
»Du hast gut reden«, sagte ich. »Für mich ist es ernst. Es geht um meinen Job.«
Troll blickte mich irritiert an. »Für mich ging es auch immer um einen Job«, entgegnete sie. »Aber deshalb muss man sich trotzdem nicht wie das Kaninchen vor die Schlange setzen und artig reagieren, wenn jemand mit einem Möhrchen wedelt. Wenn dir die Bewerbungsgespräche zu doof sind, bring etwas Pepp in die Sache.«
Ich hatte keinen Schimmer, wovon sie sprach.
»Ich habe zum Beispiel mal eine Großpackung Klopapier mitgenommen und sie auf den Besprechungstisch gelegt«, sagte Troll.
Ich kicherte. »Was hat dein Gesprächspartner gesagt?«
»Er fragte, ob ich das Toilettenpapier auf den Tisch lege, um ihn zu provozieren.«
»Das stimmte«, erwiderte ich.
»Natürlich«, stimmte Troll grinsend zu. »Aber das zuzugeben hätte bedeutet, ihm die Initiative zu überlassen. Also stellte ich mich naiv und sagte, ich lege es dahin, damit ich es nachher nicht unter dem Tisch vergesse.«
»Hast du die Stelle bekommen?«, fragte ich.
»Die Stelle, um die es da ging, habe ich gar nicht gewollt«, klärte Troll mich auf. »Es war nur ein Übungsgespräch.«
Die Vorstellung, freiwillig und nur zu Übungszwecken zu einem Bewerbungsgespräch zu gehen, war absurd.
»Ein anderes Mal hatte ich eine von diesen durchsichtigen Parfümeriemarkt-Plastiktüten dabei. Die war vollgestopft mit Kondomen.«
Sie knabberte an der Möhre, die sie mitgebracht hatte.
Ich spürte, wie ich rot wurde.
»Mit Noppen und Erdbeergeschmack und so Zeug«, ergänzte sie.
Ich stellte mir vor, was der Rad schlagende Pfau mit den rasierten Beinen wohl zum Klopapier gesagt hätte. Oder zu den Kondomen. Ob er wenigstens einmal gestutzt hätte? Ein einziges Mal? Ein kleines Entgleisen der Gesichtszüge, ein – wenn auch nur kurzes – Zucken der Nasenlöcher, in die ich ziemlich lang gestarrt hatte, wenn auch offenbar nicht lang genug, um die Stelle zu bekommen?
Aber wollte ich überhaupt einen Job, der mir diesen Anblick öfter bescherte? Ich muss gestehen, dass meine Zweifel wuchsen. Sicher war ich mir auf jeden Fall in der Einschätzung, dass ich nie, wirklich absolut niemals den Mut aufbringen würde, mit Klopapier oder Kondomen in ein Bewerbungsgespräch zu gehen. Es musste also ohne das klappen – oder es würde gar nicht klappen.
Die Besuche beim Arbeitsamt, das Ausdrucken und Absenden von Bewerbungen, das Entgegennehmen von Absagen und weitere Vorstellungsgespräche verliefen, nachdem die erste Aufregung über die neue Situation abgeklungen war, gleichförmig, ja geradezu eintönig.
Bis zu dem Tag, an dem sich alles änderte.
Zunächst zum Guten. Das andere kam ja erst später.
Es war ein Freitag, ich hatte ein Vorstellungsgespräch und trug wieder meine modisch geschnittene schwarze Hose, den modisch geschnittenen schwarzen Pullover und die modische schwarze Kette. Die Hose benötigte inzwischen einen Gürtel, denn die Essstörung hielt zwar nicht mehr konstant an, flammte aber immer wieder auf, wenn ich Greg im Bad begegnete, Sue ihre spitzen Schreie hören ließ oder mir eine Absage ins Haus flatterte. Greg schien meine leichte Gewichtsreduktion übrigens bemerkt zu haben, jedenfalls hatte ich mir beim letzten Treffen vor der Badezimmertür eingebildet, ein entsprechendes anerkennendes Funkeln in seinen Augen zu sehen.
In Trolls Gegenwart aß ich recht gut, aber hauptsächlich Möhren. Sie kaufte kiloweise Möhren, die sie ständig mit sich herumtrug. Dauernd knabberte sie an dem Zeug und immer bot sie mir auch eine an. Ich gewöhnte mich daran, statt der Süßigkeiten, die ich bei AIQ genascht hatte, Gemüse zu knabbern. Allerdings keinen Kohlrabi, denn danach riecht man aus dem Hals und das kann Greg überhaupt nicht leiden. Aber Möhren sind o.k.
Ich saß also während des entscheidenden Bewerbungsgesprächs in meiner leicht schlackernden Hose auf dem bequemen Lederstuhl vor dem Schreibtisch des Site Directors und lauschte seinen Ausführungen zum Mindset der Agentur, seiner Vision und der Roadmap zur Erreichung derselben. Ich war darauf vorbereitet, meine Fähigkeiten, Kenntnisse und beruflichen Erfahrungen sachlich professionell aber mit wohldosierter Begeisterung routiniert zu erläutern, und hatte drei Fragen im Kopf, die ich selbst stellen konnte, sollte ich dazu aufgefordert werden.
Herr Thyssen (»Theissen gesprochen, ja, es gibt da verwandtschaftliche Verwicklungen, die ich selbst gar nicht so genau verstanden habe, hahaha, aber unser Zweig stammt aus den Staaten«) hatte mich nun mit den Main Targets, den Stepstones und dem Daily Workflow bekannt gemacht und holte gerade Luft, um zu weiteren spannenden Themen überzuleiten, als sein Telefon klingelte.
Natürlich hob er ab.
Natürlich sagte er: »Ich wollte doch nicht gestört werden.« Dann lauschte er.
»Ja.« Kurze Pause. »Ja, Marisa, was gibt es denn?«
Er lauschte länger, runzelte die Stirn, blickte verwirrt, dann ärgerlich, dann ungeduldig, dann wieder verwirrt.
»Aber wenn oben Wasser kommt, muss doch auch unten Wasser kommen.« Er sprach langsam, wiederholte noch einmal. Er lauschte wieder.
»Dann stellen Sie die Maschine ab und rufen Sie den Installateur.«
Pause.
»Den Handwerker.« Pause. »Den Mann, der die Rohre repariert.« Er lauschte.
»Ja, ich kümmere mich selbst darum. Moment. Bleiben Sie dran, legen Sie nicht auf.«
Er drückte ein paar Tasten, gab der Person am anderen Ende der Leitung den Auftrag, einen Installateur anzurufen und zu seiner Privatadresse zu schicken und ihm Bescheid zu sagen, wann der Mann ankäme, damit er seine Putzfrau entsprechend informieren könne, und legte auf.
»Entschuldigung«, sagte er zu mir, den Kopf ein bisschen in meine Richtung gewandt, die Augen aber immer noch fest auf das Telefon geheftet, an dem ein kleines rotes Licht blinkte. »Wo waren wir?«
Bevor ich vorschlagen konnte, ihm etwas über meine Fähigkeiten, Kenntnisse und beruflichen Erfahrungen zu erzählen, klingelte das Telefon wieder, er nahm eine offenbar kurze Information entgegen, drückte auf die Taste über dem roten Blinklicht und sagte: »Der Installateur kommt um zwei.«