«Meine verdorbene Phantasie habe ich meiner Mutter zu verdanken«, sagte sie zu meiner Überraschung.»Ich hab’ wirklich Hunger, und ich sehe nicht ein, warum ich nicht bei Ihnen etwas essen sollte, falls Sie etwas im Hause haben. «Ohne sich zu zieren, stieg sie aus, schloß den Wagen ab und stand erwartungsvoll neben mir auf dem Bürgersteig.
«Ein paar Konserven müßten noch da sein«, sagte ich.
«Warten Sie einen Augenblick, bitte. Ich will nur rasch einen Blick nach hinten werfen.«
«Nach hinten?«
«Einbrecher«, erklärte ich ironisch. Ich überprüfte wie gewöhnlich die bepuderte unterste Stufe der Feuerleiter. Den ganzen Tag über konnte niemand hier hinauf- oder heruntergeklettert sein.
Lynnie bewältigte die Treppen bis in den vierten Stock ebenso mühelos wie am Morgen. Einem geschickt angebrachten Papierstreifchen merkte ich an, daß niemand meine Tür geöffnet hatte. Ich schloß auf, wir traten ein.
Der grüne Plastikschirm meiner Wohnzimmerlampe tauchte den einigermaßen aufgeräumten Raum in ungemütliches Licht und verwandelte das milde Grau draußen plötzlich in tiefes Schwarz. Schlagartig wurde mir die Trostlosigkeit von Mietskasernen an einem Winternachmittag klar. Es wäre ganz einfach, dachte ich, gleich am Morgen loszugehen und einen roten Lampenschirm zu kaufen. Ob der wohl rosigere Gedanken vermittelte?
«Nehmen Sie Platz«, lud ich sie ein.»Ist Ihnen warm genug? Schalten Sie die elektrische Heizung ein, wenn Sie wollen. Ich ziehe mich rasch um, dann können wir beschließen, was wir machen wollen.«
Lynnie nickte und nahm die Sache in die Hände. Als ich aus dem Schlafzimmer kam, hatte sie bereits meinen kärglich ausgerüsteten Vorratsschrank inspiziert und ein Päckchen Suppe, ein paar Eier und eine Dose Sardellen bereitgelegt.
«Suppe und Rührei mit Sardellen«, gab sie bekannt.
«Wenn Sie so etwas mögen«, murmelte ich zweifelnd.
«Sehr viel mehr kann ich nicht kochen.«
Ich lachte.»Na gut. Ich kümmere mich um den Kaffee.«
Als sie fertig war, hatte das Rührei angebrannte Stellen, die gut zu dem abgekratzten, weil zu schwarz gewordenen Toast paßten. Die bräunlichen Sardellenstreifen schmeckten zu pfefferig.
«Keiner wird mich wegen meines Cordon bleu heiraten«, seufzte sie.
Es gab eine Menge anderer Gründe, aus denen sie in ein oder zwei Jahren sicher alle Hände voll zu tun haben würde, sich ihrer Verehrer zu erwehren: ihre gute Figur, den zarten Hals, die Babyhaut, den Ausdruck von Rühr-mich-nicht-an, ihren erwachenden Mut in gesellschaftlichen Dingen, ihr rasches, unverfälschtes Mitgefühl. Aber im Augenblick fühlte sie sich nicht selbstsicher genug, als daß ich es ihr hätte sagen mögen.
«Wann sind Sie denn siebzehn geworden?«fragte ich.
«Vorletzte Woche.«
«Dann haben Sie sich mit der Fahrprüfung aber beeilt.«
«Ich kann seit meinem achten Lebensjahr fahren. Peter kann’s übrigens auch. «Sie war mit dem Rührei fertig und tat sich zwei gehäufte Teelöffel Zucker in den Kaffee.
«Aber ich hatte tatsächlich Hunger. Seltsam, wie?«
«Seit dem Lunch ist einige Zeit vergangen.«
«Schrecklich viel Zeit…«Plötzlich sah sie mir gerade ins Gesicht. Bis jetzt hatte sie das zumeist vermieden. Mit vernichtender Offenheit erklärte sie:»Ich bin so froh, daß Sie am Leben geblieben sind.«
Ich duckte mich unwillkürlich und versuchte zu lachen.
«Und ich bin froh, daß Dave Teller noch lebt.«
«Beide«, sagte sie.»Es war der schlimmste Augenblick in meinem ganzen Leben, als Sie nicht mehr auftauchten.«
Ein wohlbehütetes Kind, dachte ich. Schade, daß es auf der Welt so rauh zugeht. Eines Tages erwischt es sie auch bei ihrem hübschen Genick und schüttelt sie durch. Keiner kann entrinnen. Es ist pures Glück, wenn man mit siebzehn noch nicht gebüßt hat.
Nach dem Kaffee bestand sie darauf, das Geschirr zu spülen. Doch dann, als sie das Geschirrtuch aufhängte, merkte ich, wie sie sich plötzlich wieder an alle guten Ratschläge ihrer Mutter erinnerte. Sie streifte mich mit einem raschen Blick und schaute schnell wieder weg. Steif stand sie mitten im Zimmer, nervös und verlegen.
«Warum haben Sie eigentlich keine Bilder an den Wänden?«fragte sie unkonzentriert.
Ich deutete auf die Kiste in der Ecke.»Da drin sind ein paar, aber ich mag sie nicht besonders. Jedenfalls nicht so, daß ich mir die Mühe mache, sie aufzuhängen. - Wissen Sie, daß es schon nach zehn ist? Ich bringe Sie jetzt lieber nach Hause, sonst werden Sie noch ausgesperrt.«
«Ach, ja«, sagte sie höchst erleichtert. Dann fiel ihr der Ton ihrer eigenen Stimme auf, und sie fügte verwirrt hinzu:»Ich meine — Sie müssen mich für ungezogen halten, wenn ich gleich nach dem Essen weglaufe.«
«Ihre Mutter hat ganz recht, wenn sie Ihnen zur Vorsicht rät«, sagte ich und versuchte, einen leichten Ton anzuschlagen.»Das kleine Rotkäppchen konnte auch nicht zwischen einem Wolf und seiner Großmutter unterscheiden. Sie können nie wissen, ob nicht hinter dem nächsten Baum schon ein grober Holzfäller steht.«
Ihre steife Haltung schmolz dahin wie Nebelschleier. Sie bemerkte:»Manchmal sagen Sie wirklich eigenartige Dinge, als ob Sie Gedanken lesen könnten.«
«Kann ich vielleicht. «Ich lächelte.»Ziehen Sie lieber die Strickjacke an, draußen wird es jetzt kühl sein.«
«Gut. «Sie zerrte eine dunkelbraune Jerseyjacke aus ihrem Beutel und zog sie über. Dabei fiel ein sauberes, zusammengefaltetes Taschentuch heraus. Ich bückte mich danach und reichte es ihr.
«Danke«, sagte sie und betrachtete es gleichgültig.»Das hat Peter in dem Flußkahn gefunden.«
«In dem Kahn?«
«Ja, in einem Spalt zwischen zwei Kissen. Er hat’s mir gegeben, weil’s für ihn zu klein war. Zu weibisch, wie er meinte.«»Hat er sonst noch etwas gefunden?«
«Das glaube ich nicht. Ich meine, das ist doch kein Diebstahl, wenn man so ein Taschentuch behält, wie? Wenn sie wieder auftaucht, werde ich es ihr natürlich zurückgeben. Aber als Peter es im Kahn fand, da waren die beiden schon längst verschwunden.«
«Nein, es ist kein Diebstahl«, versicherte ich ihr, obgleich das rein theoretisch zweifelhaft sein mochte.»Kann ich es einmal sehen?«
«Natürlich.«
Sie gab es mir zurück, und ich schlug es auseinander. Es war weiß, viereckig und bestand aus einem dünnen, gazeartigen Material. In einer Ecke entdeckte ich einen stilisierten Bären mit Strohhut.
«Stammt der von Walt Disney?«
Sie schüttelte den Kopf und schien über meine Unwissenheit überrascht zu sein.»Das ist der Yogi-Bär.«
«Wer ist der Yogi-Bär?«
«Nicht zu fassen! Nun, das ist eine Gestalt aus Trickfilmen. Wie Top Cat, Atom Ant oder die Flintstones.«
«Die hab’ ich schon mal gesehen.«
«So etwas Ähnliches ist das, der Yogi-Bär stammt von denselben Leuten.«
«Haben Sie etwas dagegen, wenn ich das Tuch für ein oder zwei Tage behalte?«
«Nein, wenn Sie’s haben wollen«, antwortete sie erstaunt.»Aber es ist wirklich nicht sehr wertvoll.«
Als wir unten an ihrem Wagen standen, sagte ich, es wäre doch am besten, wenn ich sie nun nach Hause führe.
«Ich bin wirklich wieder in Ordnung«, widersprach sie.
«Sie brauchen nicht mitzukommen.«»Ich komme aber mit. Ihr Vater hat mich beauftragt, ich soll mich um Sie kümmern, also bringe ich Sie sicher bis an die Haustür.«
Sie hob die Augenbrauen und sah mich mit einem komischen Ausdruck an, ging aber gehorsam auf die andere Seite des Wagens. Ich ließ den Motor an, schaltete die Beleuchtung ein und fuhr nach Kensington.
«Tun Sie denn immer, was Daddy Ihnen sagt?«fragte sie lächelnd.
Jetzt fühlt sie sich schon viel sicherer, dachte ich.
«Ja, wenn ich will.«
«Das ist ein Widerspruch in sich.«