Walt schaute auf seine Uhr und verglich die Zeit mit der elektrischen Wanduhr. Das kleine, zellenähnliche Büro hatte kein Fenster. Die einzige Fensterscheibe führte zum Flur. Obgleich es hier angenehm kühl war, schien es doch nicht der rechte Ort für eine Unterhaltung zu sein, wenn man nicht unbedingt mußte.
«Fünf nach sechs«, stellte Walt fest.»Haben Sie noch etwas vor?«
«Kennen Sie eine nette Bar?«schlug ich vor.
«Ein Gedankenleser!«Er schickte einen Verzweiflungsblick gen Himmel.»Einen Häuserblock den Broadway rauf wäre >Delaneys<.«
Wir traten aus dem vollklimatisierten Gebäude in die Hitze der Straße hinaus. Der Temperaturunterschied betrug gut und gern zwanzig Grad. Da die Luftfeuchtigkeit sicher auch bei 98 Prozent lag, war man nach hundert Schritten naßgeschwitzt. Mir machte das nichts aus. New York in einer Hitzewelle ist mir immer noch lieber als New York bei Schneesturm. Hitze mag ich lieber als Kälte. Kälte geht bis auf die Knochen, lahmt den Verstand und raubt einem die Willenskraft. Falls meine Niedergeschlagenheit zum Winter hin noch zunahm, dann kam mit dem ersten Schnee sicherlich die Katastrophe.
>Delaneys Bar< quoll über von Menschen, da irgendeine geschäftliche Tagung anscheinend gerade Feierabend gemacht hatte. Am Aufschlag eines jeden Geschäftsanzugs prangte ein längliches Namensschildchen, und auf jedem Gesicht verdeckte ein zuversichtliches Lächeln die innere Besorgnis. Die Kerntruppe dieses Klubs hielt sich noch auf dem Bürgersteig auf, aber ihre Vorhut erstreckte sich schon bis in die Dämmerung der kühlen Bar. Schwierig, da durchzukommen. Und ganz ausgeschlossen, sich in diesem Trubel zu unterhalten.
«Wie wär’s mit Ihrem Hotel? Wo sind Sie abgestiegen?«fragte Walt.
«Im >Biltmore<.«
Walts Augenbrauen schoben sich um glatt fünf Zentimeter in die Höhe.
«Teller bezahlt alles«, erklärte ich.»Er hat dort ein Konto.«
«Wie haben Sie denn das angestellt? Haben Sie ihm das Leben gerettet?«
Ich ging auf seinen sarkastischen Ton ein.»Sechsmal.«
«Er muß wirklich glauben, daß Sie ihm das Pferd wieder herschaffen können«, meinte Walt nachdenklich.
«Wir«, berichtigte ich.
«Nein. Sie. Es gibt keine Spur. Ich hab’ mich überall umgesehen.«
Ein farbiger Taxifahrer mit hochgerollten Hemdsärmeln brachte uns in mein Hotel. Wenn er beschleunigte, blies uns durch das offene Seitenfenster jedesmal ein Schwall warmer Luft ins Gesicht. Die Stadt schien unter der unbarmherzigen Sonne ihr Tempo verringert zu haben, und an den
Straßenrändern glaubte ich mehr Müll als sonst zu sehen.
«Eine dreckige Stadt«, bemerkte Walt. Er schien sie durch meine Augen zu sehen.»Da lobe ich mir Chicago.«
«Zu kalt«, sagte ich automatisch.»Schön, aber viel zu kalt. Dieser eisige Wind vom See her…«
«Seid ihr beide aus Chicago?«unterbrach mich der Taxifahrer.»Ich bin dort geboren, am Loop.«
Walt unterhielt sich mit ihm darüber. Ich glitt in einen angenehmen Dämmerzustand hinüber, in dem mir der Taxifahrer ebenso gleichgültig war wie Walt, Dave Teller, Caroline oder sonst jemand auf der Welt.
Im >Biltmore< gingen wir auf mein Zimmer. Mit einiger Mühe betätigte ich mich als Gastgeber, klingelte nach einer Flasche Scotch und Eis, kümmerte mich um die Klimaanlage, Feuerzeug, Aschenbecher. Walt lockerte seinen Schlips und nahm einen Probeschluck.
«Sie sehen erschossen aus«, sagte er.
«Mein Normalzustand.«
«Für Sie ist wahrscheinlich schon Mitternacht.«
«Wahrscheinlich.«
Wir tranken, und es entstand eine längere Pause. Dann setzte er sich in dem weißen Ledersessel bequemer und sagte:»Wollen Sie nun etwas über den Gaul wissen oder nicht?«
«Klar. «Selbst mich erschreckte der gelangweilte Ton meiner Stimme. Er machte ein verwundertes Gesicht, wurde nachdenklich und begann schließlich ganz nüchtern zu berichten.
«Der Hengst wurde in einem Pferdetransporter vom Kennedy-Flughafen nach Lexington im Bundesstaat Kentucky geschafft. Im Stall des Flughafens hatte er die vorgeschriebene Quarantäne von vierundzwanzig Stunden absolviert, zusammen mit sechs anderen Pferden, die mit derselben Maschine angekommen waren. Man lud Chrysalis und vier andere Gäule in den Transporter und fuhr sie auf der >Pennsylvania Turnpike<, der schnellen Autobahn, von New York aus westwärts.«
«Wann?«
«Abfahrt vom Kennedy-Flughafen um 16.00 Uhr am Montag. Das war vorige Woche — heute genau vor einer Woche. Am Dienstag wollten sie um die Mittagszeit in Lexington sein. Siebenhundert Meilen.«
«Aufenthalte?«
«Tja, die Fahrtunterbrechungen«, sagte Walt,»damit fängt der Ärger schon an. «Er ließ die Eiswürfel ans Glas klicken.»Die erste Essenspause legten sie in einer Raststätte in der Nähe von Allentown ein, das ist 85 Meilen von New York entfernt. Zu dem Transport gehörten vier Mann, zwei Fahrer und zwei Pferdepfleger. Die Fahrer vorn in der Kabine, die Betreuer hinten bei der Fracht. Während der ersten Pause aßen sie abwechselnd, erst die Fahrer, danach die Betreuer. Die Fahrer ärgerten die Pferdemänner, indem sie ihnen für ein anständiges Essen nicht genug Zeit ließen. Darüber gab es einen unschönen Streit.«
«Das sagen alle übereinstimmend aus?«
«Ja. Ich hab’ mir die vier einzeln vorgenommen. Jeder bemüht sich, den anderen die Schuld zuzuschieben. Nach der Rast fuhren sie noch etwa zweihundert Meilen bis Bedford, wo sie übernachteten. Dort war’s um keinen Deut besser. Der Streit hatte sich nicht abgekühlt, im Gegenteil.
Südlich von Pittsburgh bogen sie von der Autobahn auf die Bundesstraße 70 ab, fuhren bis Zanesville und nahmen von da aus die südwestliche Umgehung nach Cincinnati. Etwa fünfzig Meilen weiter bogen sie genau nach Süden ab, überquerten den Ohio-Fluß, wechselten nach Kentucky über und fuhren dann über Paris und die >Paris Turnpike< bis Lexington.«»Das muß ich mal auf einer Karte sehen«, sagte ich.
Er nickte.»Von Zanesville bis Paris fuhren sie auf Nebenstraßen, die aber natürlich alle befestigt waren. Klar? In Ohio wurde der Transporter geraubt, und jenseits der Staatengrenze, drüben in Kentucky, fand man ihn wieder. Darum hat’s auf beiden Seiten ‘ne Menge Krach gegeben.«
«Geraubt? Das erste, was ich höre!«
«Er wurde wahrscheinlich versehentlich überfallen. Eigentlich wollten die Burschen einen Schnapstransport erwischen, der etwa zwanzig Meilen hinter ihnen auf derselben Straße daherkam. Die Transporter sahen sehr ähnlich aus, gleiche Farbe, gleiche Größe, und keiner der beiden hatte deutliche Aufschriften an den Seiten.«
«Was passierte?«
«Am Dienstagmorgen aßen Fahrer und Pferdepfleger gleichzeitig, allerdings an den entgegengesetzten Enden des Tisches. Sie ließen die Pferde eine volle Viertelstunde lang unbeaufsichtigt, und in dieser Zeit fuhr einfach jemand mit der ganzen Fuhre auf und davon.«
«Aber die Fahrer hatten doch wenigstens abgeschlossen und die Schlüssel eingesteckt?«
«Sicher. Allerdings waren Experten am Werk. Sie haben die Zündung kurzgeschlossen.«
«Und dann?«
«Als die vier feststellten, daß der Transporter verschwunden war, riefen sie die Polizei an, aber der Wagen wurde erst am Mittwoch morgen abseits von der Straße entdeckt — hinter einem kleinen Hügel, so daß man ihn nicht sehen konnte. Aber ohne Pferde. Die Rampe war heruntergelassen, die Pferde auf und davon.«
«Mit Absicht.«
«Natürlich. Man hatte sie losgebunden, und die Halfter hingen noch im Transportwagen. Die Rennpferde liefen frei herum, ohne Zaum oder sonst etwas, woran man sie hätte festhalten können. In Kentucky meint man, die Pferde seien freigelassen worden, um die Polizei von der Fährte der Räuber abzulenken, weil zuerst die Gäule eingefangen werden mußten.«
«Und das hat funktioniert?«