«Wenn ich das Pferd finden will, muß ich jetzt gehen«, sagte ich.
«Der Teufel soll das Pferd holen«, bemerkte Lynnie.
Ich lachte.»Sie haben rasch gelernt.«
«Ich mag Eunice!«verteidigte sie sich.»Mich schockiert ihre Art nicht.«
Daraus entnahm ich, daß Lynnie zwar schockiert war, es aber nie zugeben würde.
«Aber Sie kommen doch hierher zurück? Ich meine, ehe Sie nach England zurückfliegen?«
«Ich denke schon.«
Sie spielte mit ihrer Kaffeetasse und betrachtete den Inhalt.»Es ist erst eine Woche her, seit ich Sie letzten Sonntag in Ihrer Wohnung abholte.«
«Und Sie sind in dieser Zeit um ein Jahr älter geworden.«
Sie warf mir einen verwunderten Blick zu.»Warum sagen Sie das?«
«Weil Sie es gerade gedacht haben.«
«Ich weiß«, sagte sie verwirrt.»Aber woher wissen Sie es denn?«
«Irgendein Kristall im Oberstübchen. Funktioniert aber leider mit Unterbrechungen.«
«Das macht nichts, wenn Sie mich fragen. «In ihrem Lachen lag leiser Spott.»Stellen Sie sich vor, Sie wären ununterbrochen auf Eunices Sender eingestellt.«
In diesem Augenblick kam Eunice aus dem Haus geschlendert. Sie trug einen stahlblauen Morgenmantel und einen erträglichen Katzenjammer. Beides war noch vorhanden, als sie nach zwei Tassen Kaffee und einer Zigarette Lynnie und mich zum Flughafen fuhr.
«Wiedersehen, Sie Hundesohn«, sagte sie, als ich neben ihrem Fenster stand.»Ich hab’ das Gefühl, Sie können jederzeit wiederkommen, wenn Sie wollen.«
Lynnie warf ihr einen scharfen Blick zu, voll plötzlich auftauchenden Argwohns. Ich verabschiedete mich lächelnd von den beiden und betrat die Abfertigungshalle. Mit dem Airbus legte ich die tausend Meilen bis Denver zurück und charterte für die letzten zweihundert Meilen von einer ansässigen Firma eine zweimotorige Piper. Während des ganzen Weges nach Rock Springs hockte der Pilot neben mir und kaute seine Fingernägel wie ein Kannibale, der sich selbst
auffressen will. Bei der Landung war mir übel.
An diesem heißen, ausklingenden Sonntagnachmittag wirkte die kleine Wüstenstadt wie ausgestorben. Über dem endlosen Autofriedhof mit seinem Heer rostender Wracks flimmerte die Hitze. Ein >Greyhound<-Bus rollte vorbei. Hinter den Fenstern bewegten sich die Fahrgäste wie Fische in einem Aquarium, und auf den Rasenflecken vor den Häusern der wohlhabenden Bürger hielten Rasensprenger die Hitze in Schach. An der Bushaltestelle erfuhr ich, daß >dem alten Hagstrom sein Junge< der hiesige Agent der Firma >Snail Express< sei, aber als ich den alten Hagstrom auf der vorderen Veranda seines kleinen Holzhauses fand, fächelte er sich in einem Schaukelstuhl frische Luft zu und erklärte, sein Junge sei ausgegangen.
Hagstrom schien jedoch froh über die Abwechslung zu sein. Er sagte mir, ich solle ins Haus gehen und zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank holen. Der Kühlschrank stand im Wohnzimmer; ich betrachtete das Durcheinander durchgesessener Polstermöbel, schmutziger Gardinen und Teppiche, ungespülter Tassen und Teller, Gläser und Flaschen, und mitten drin ein gewaltiges, nagelneues Fernsehgerät. Ich brachte das Bier mit auf die Veranda, setzte mich auf die oberste Stufe und trank wie mein Gastgeber direkt aus der Flasche.
Der Alte schaukelte, kratzte sich, trank und versicherte mir ganz nebenbei, ich könne mich darauf verlassen, daß sein Junge jeden Augenblick zurück sein müsse. Ich schaute die leere Straße entlang. Auf den übrigen Veranden erkannte ich andere schaukelnde Gestalten, die teilweise wegen der geschlossenen Fliegengitter kaum zu sehen waren. So saßen sie da und sahen die Welt vorüberrollen. Nur befand sich diese Welt auf Rädern und hielt niemals zu einem Plausch an.
Nach zwei weiteren Flaschen Bier — der alte Hagstrom setzte mir gerade auseinander, wie er 1967 das Vietnamproblem gelöst hätte — kam sein Junge in einem pockennarbigen alten
Chrysler angerollt. Der Junge war wirklich noch ein Junge — höchstens achtzehn, sein Enkel. Er wischte sich die Hände an seinem verschmierten Sporthemd und den Jeans ab und streckte mir dann eine davon in ebenso freundlichem und lässigem Willkommensgruß hin, wie sein Großvater ihn mir entboten hatte. Ich erklärte ihm, weshalb ich gekommen war.
«Natürlich können Sie sich den Transporter mal ansehen«, sagte er liebenswürdig.»Jetzt gleich?«
«Wenn Sie nichts dagegen haben.«
«Nicht im geringsten.«
Er lud mich in seinen Brutkasten von einem Auto, schaukelte es lässig um ein paar Ecken und hielt mit einem Ruck vor einem windschiefen Tor in einer mannshohen Mauer an. Durch das Tor sah ich vier Möbelwagen der Firma >Snail Express< in verschiedenen Größen stehen. Es waren Anhänger zum Ankuppeln.
«Der dort!«Ich deutete auf den größten.
«Der mußte letzten Samstag hereingekommen sein. Ich sehe mal nach. «Er schloß den kleinen Verschlag aus Backsteinen auf, der als Büro diente. Ich trat hinter ihm ein. Hier drin war’s so heiß, daß Satan seine helle Freude gehabt hätte.
Er schlug in einem Buch nach, dann sagte er:»Stimmt — am Samstag. Kam aus New York. Miete war für eine Woche im voraus bezahlt. Die Woche wäre erst am Montag zu Ende gewesen.«
«Wissen Sie noch, wer ihn abgeliefert hat?«
«Hm, Augenblick mal. Richtig, war so’n alter Knacker. Viel weiß ich nicht mehr von ihm, aber er hatte weißes Haar.«
«Und mit welchem Wagen hat er den Möbelanhänger gezogen?«
«Ich hab’ ihm beim Ab kuppeln geholfen — hm, es muß ein Kombi gewesen sein. Grau, wenn ich mich nicht irre.«
«Die zwei da waren es nicht?«Ich zeigte ihm das Foto.
«Nein. «Das klang sehr entschieden. Er konnte sich nicht erinnern, die beiden jemals gesehen zu haben. Ob ich seinen Großvater schon gefragt hätte? Ich hatte.
Er habe den Möbelwagen schon ausgefegt, aber ich könne gern einen Blick ins Innere werfen, wenn ich wolle.
«Warum haben Sie ihn ausgefegt?«fragte ich.
«Das mach’ ich immer. Er war aber ziemlich sauber.«
Ich sah trotzdem nach, fand aber keine Pferdehaare. Nichts wies darauf hin, daß man Chrysalis in diesen Anhänger gezwängt hatte. Nur die Bauart gab mir einen Hinweis: Das Dach ließ sich nach außen öffnen, um das Aufladen von sperrigen Gegenständen zu erleichtern. Ich hatte mir Gedanken darüber gemacht, daß Chrysalis in einem winzigen, dunklen Wagen transportiert worden war. Mit einem offenen Dach war das natürlich schon eine ganz andere Sache.
Hagstroms Enkel rief freundlicherweise für mich den Selbstfahrerdienst an und besorgte mir einen schwarzen Chevrolet mit Klimaanlage, der nur fünftausend auf dem Tacho hatte. Als ich am Morgen zum Frühstück nach Gardiner fuhr, waren es dreihundertfünfzig Meilen mehr.
Die Straße führte genau durch den Yellowstone Park. Die Dämmerung kroch dunstig durch die Tannen, und ab und zu erblickte ich im Vorbeifahren einen See, der wie Quecksilber schimmerte. Ein häßlicher, großer Elch kam mir zu Gesicht, aber kein Bär. Yogi schlief noch.
Den ganzen Vormittag lief ich durch die Stadt. Kein einziger Laden führte die Taschentücher, niemand hatte auch nur etwas Ähnliches auf Lager. Mit dem Foto erreichte ich überhaupt nichts. Ich genehmigte mir zu Mittag ein Sandwich mit gebackenem Schinken, Tomate und Salat in einer Schnellimbiß-Gaststätte und fuhr die 54 Meilen nach West Yellowstone.
Mit meiner Nachmittagstour erreichte ich genausowenig. Erhitzt, müde und enttäuscht saß ich in meinem Chevrolet und überlegte, was ich als nächstes tun sollte. In dem Möbelanhänger war keine Spur von Chrysalis zu sehen, auch wenn es höchstwahrscheinlich der Möbelwagen war, den die beiden Fahrer unterwegs gesehen hatten. In der Gegend des Yellowstone Parks gab es keine Taschentücher, wie ich eines hatte. Walt hatte recht. Die Reise war sinnlose Zeitvergeudung.