«Ihr zwei kennt euch noch nicht…«Er zögerte einen Augenblick.»Dave… Gene, das ist David Teller.«
Teller erhob sich, reichte mir knapp die Hand und behauptete, über die Bekanntschaft mit mir erfreut zu sein. Er trug ein schlampiges, zerknittertes blaues Hemd über einer geflickten Baumwollhose, zerknautschte Segelschuhe an den Füßen und auf dem Kopf eine schmutzige alte Baseball-Kappe. Amerikaner, gute Schulbildung, wohlhabend, selbstsicher — ganz automatisch stufte ihn mein geschulter Verstand ein. Außerdem war er schlank, ging auf die Fünfzig zu, hatte eine kräftige Hakennase, einen offenen Blick und einen hervorragenden Zahnarzt.
Keeble ließ sich, abgesehen von dieser dürftigen Vorstellung, auf keine näheren Erklärungen ein, sondern konzentrierte sich ganz darauf, sein Schiff seeklar zu machen. Er schrie in die Kabine, ein gewisser Peter solle ihm helfen, aber niemand erschien. Ich schob meinen Kopf durch die Tür und erblickte einen etwa zwölfjährigen Jungen, der hingebungsvoll damit beschäftigt war, einen neuen Film in seinen billigen Fotoapparat einzulegen.
«Peter!«brüllte sein Vater.
Peter stieß einen abgrundtiefen Märtyrerseufzer aus, drückte seine Boxkamera zu und ging an mir vorbei hinaus. Dabei hatte er nur Augen für den Apparat und drehte im Gehen am Aufzug. Blindlings und völlig sicher trat er auf die schmale Bordwand und von da auf die Mole hinüber.
«Eines Tages fällt er noch ins Wasser«, sagte Lynnie zu niemandem im besonderen. Ihr Bruder hörte sie nicht einmal. Während er mit der einen Hand immer noch an der Kamera herumdrehte, wickelte er mit der anderen langsam die Leine vom Vertäuungsring. Dabei kniete er mit seinen sauberen schwarzen Jeans auf dem Boden nieder und stand mit zwei großen grauen Flecken auf den Knien wieder auf. Dann richtete er den Apparat auf einen vorbeifliegenden Entenschwarm, knipste und drehte mit ernstem, konzentriertem Gesicht den Film weiter.
Weiter oben machten Keeble und Teller die Bugleine los und plauderten dabei angeregt. Lynnie und ihre Mutter richteten die Fender aus und schossen die Leine auf. Sie machten sich hier und da zu schaffen und plauderten über Nichtigkeiten. Ich fragte mich, was zum Teufel ich hier zu suchen hatte, und kam mir höchst überflüssig vor. Dieses Gefühl des Losgelöstseins war mir nicht neu, es befiel mich in letzter Zeit häufiger. Die beiden Ebenen des Daseins entfernten sich immer weiter voneinander. Die alltägliche, gesellige Ebene hatte jede Bedeutung eingebüßt, und darunter, wo fester Fels sein sollte, gähnte die Leere erschreckender Einsamkeit. Es wurde immer schlimmer damit. Die Gegenwart war schon schlimm genug — die Zukunft war ein richtiger Abgrund. Arbeit hielt die zersplitternden Stücke meines Ichs noch zusammen, dabei wußte ich nur zu gut, daß es gerade die Arbeit war, die diesen Prozeß überhaupt in Gang gesetzt hatte. Sie und Caroline. Genauer: Carolines Mann.
«Ich hab’ gesagt, Sie sollen die Leine da mal halten. Bitte!«rief Peter. Ich faßte die nasse Schlange an, die er mir hinhielt.»Hallo!«fügte er hinzu, da er mich wohl zum erstenmal bewußt erblickte.»Wer sind Sie denn?«
«Jeder darf raten«, sagte ich wahrheitsgemäß, aber nicht sehr logisch. Seine Mutter warf mir einen sonderbaren Blick zu und nannte meinen Namen.
Keeble kam auf Deck zurück und startete die Maschine.
Teller postierte sich auf dem kleinen Vorderdeck und warf auf Keebles Befehl die Bugleine los. Peter ließ sich mit der Heckleine so lange Zeit, daß er kaum noch an Deck springen konnte. Die Kamera hüpfte an ihrem Riemen an seinem Hals.»Geburtstagsgeschenk von Gran«, sagte er stolz zu Lynnie.»Große Klasse, wie?«
«Du läßt sie noch in den Fluß fallen, wenn du nicht aufpaßt.«
«Ist erst mein zweiter Film. Den ersten hab’ ich gleich in der Schule verknipst. Glaubst du, die Enten werden richtig drauf sein?«
«Wahrscheinlich hast du den Finger vor die Blende gehalten.«
«Drinnen hab’ ich noch ein Buch. «Er deutete mit dem Kopf zur Kabine. Er überhörte gekonnt ihren Sarkasmus und spürte sehr wohl die dahinter verborgene Zuneigung.
«Da steht alles über Blende und Belichtung drin. Ich sehe lieber mal nach, was man bei Sonne nehmen muß. Letzte Woche in der Schule war’s immer grau und verhangen.«
Ich gehöre nicht hierher, dachte ich. Am liebsten hätte ich weitergeschlafen.
Die >Flying Linnet< schob ihre Nase flußaufwärts und suchte sich ihren Weg zwischen einem Schwarm von Ruderbooten. Keeble stand am Ruder, Teller saß ruhig vorn auf dem Kabinendach, und Peter versuchte, an Lynnie vorbeizukommen, die ihm gutmütig neckend den Weg in die Kabine versperrte. Joan Keeble setzte sich auf die breite Bank achtern im Cockpit und deutete auf den Platz neben sich — ich sollte ihr Gesellschaft leisten. Ich gab mir einen Ruck und tat ihr den Gefallen, aber schon nach ein oder zwei Minuten scheinbar nichtssagender, höflicher Konversation merkte ich plötzlich, wie sie behutsam etwas über mich herauszubekommen suchte. Sie wollte wissen, warum ich eingeladen worden war, ohne mich merken zu lassen, daß sie es nicht wußte.
Dieses Spielchen konnte ich bis in alle Ewigkeit fortsetzen. Ich wußte selbst nicht, warum ich hier war, aber daß sie danach fragen mußte, daß sie diese Frage tatsächlich gestellt hatte, sagte mir viel über den mangelnden Kontakt zwischen Keeble und seiner Frau und ließ mich Keeble selbst in neuem Licht sehen. Jetzt wußte ich auch, warum er mich nie in seine Wohnung eingeladen hatte. Es ist gut, wenn man ein Mikroskop besitzt, aber man legt sich nicht gern selbst unter das Okular. Um so eigentümlicher erschien mir der Umstand, daß er es nun doch getan hatte.
Als hätte er meine Gedanken im Genick gespürt, drehte er sich um und sagte:»Wir haben die Schleuse genau vor uns.«
Ich stand auf und trat zu ihm. Peter gab seine Bemühungen endlich auf und kehrte auf seinen Posten an der Heckleine zurück.
«Die Marsh-Schleuse«, erklärte Lynnie. Sie stand neben mir und blickte durch die Windschutzscheibe nach vorn.
«Stromaufwärts ist sie gar nicht einfach.«
Als wir näher kamen, wurde mir klar, was sie meinte. Der breite Fluß verengte sich plötzlich. Backbord waren die Schleusentore, steuerbord daneben das Wehr. Schon in einer Entfernung von fünfzig Metern empfingen uns kleine Wirbel und Gischtstreifen. Je weiter wir kamen, um so gewaltiger wurden Strömung und Wirbel. Sie versuchten dauernd, das Boot ausscheren zu lassen, und Keeble drehte emsig am Ruder, um das Boot auf Kurs zu halten. Vor uns stürzte das Wasser tonnenweise über das Wehr; grün, braun und schäumend-weiß brandete es in Sturzwellen herab und roch nach Moder und Schlamm.
Ein niedriger hölzerner Damm trennte die Schleuseneinfahrt vom quirlenden Wasser des Wehrs. Keeble steuerte das Boot geschickt ins ruhige Wasser vor der Schleuse. Teller warf vom Bug aus seine Leine über einen Poller, Peter schlang seine Leine mit einer Schlinge über einen zweiten.
Gleichgültig blickte ich über die Bootswand und die Holzbarriere hinweg in die Gischt. Das schäumende, stürzende, tosende Wasser sah im hellen Sonnenschein prächtig aus, wie es sich wieder in die volle Breite des Flußbettes ergoß. Ich spürte in der Wärme fein zersprühte kühle Spritzer auf meinem Gesicht und fragte mich, ob jemand, der da hineinfiel, jemals wieder ans Tageslicht kommen würde.
Die Schleusentore öffneten sich, die flußabwärts fahrenden Boote glitten aus der Kammer, und die >Flying Linnet< schob sich hinein. Das Wasser strömte durch die oberen Schleusentore herein, hob uns hoch, und zehn Minuten später glitten wir aus der Schleusenkammer auf die ruhige Wasserfläche hinaus, zwei Meter höher als zuvor.
«Die Themse hat fünfzig Schleusen«, erklärte Keeble.