«Könnten Sie mir dann morgen nach dem Frühstück die
Rechnung ausschreiben?«schlug ich ihr vor.
«Natürlich«, antwortete sie.»Aber können Sie wirklich nicht bis Montag bleiben — wegen der Feiern zum Unabhängigkeitstag?«
«Leider nicht.«
Sie nickte. Es war ihr einerlei.»Ich werde Ihnen dann die Rechnung fertigmachen.«
Die Familie Wilkerson war von meinen Abreiseplänen nicht erbaut. Samantha sagte:»Onkel Hans, dann verpaßt du doch das Spießbraten und die Floßfahrt auf dem Fluß!«
Jemand aus der Gegend hatte Floßfahrten auf dem ziemlich reißenden Snake River organisiert. Diese Touren auf schwarzen, aufblasbaren Gummiflößen galten als große Attraktion, genau wie der Rodeo und der Skilift. Die Wilkersons hatten mich dazu eingeladen. Ich tröstete sie:»Vielleicht komme ich nächstes Jahr wieder.«
Vielleicht auch nicht.
Am Nachmittag kümmerte ich mich um die Kinder, während Betty-Ann zum Friseur fuhr und Wilkie an einem entlegenen See fischte. Sie badeten im Fluß, aber ich blieb am Ufer, weil ich fürchtete, mein Kopf im Wasser könnte Yolas Erinnerung anregen. Danach fütterten wir über den Zaun hinweg die staksigen Fohlen mit Würfelzucker und ausgerupften Grasbüscheln. Die Einfriedung bestand aus soliden jungen Bäumen, die quer auf noch stabilere Pfosten genagelt waren. Das Tor war noch widerstandsfähiger gebaut. Die Angeln waren durch das Holz geschraubt, und den Verschluß bildeten zwei schwere Vorhängeschlösser. Das alles war nicht neu.
Samantha und Mickey hielten nicht viel von dem Sardinengaul.
«Zu dünn«, stellte Mickey sachkundig fest.»Oben in den Bergen bricht er sich die Beine.«
Ich schaute hinüber zu den Teton-Bergen, deren Gipfel weiß in der warmen Sonne schimmerten. Die berggewohnten Pferde der Ranch mit ihrer Trittsicherheit bewältigten spielend die steilen, steinigen Pfade aufwärts und abwärts durch die Wälder, über Heidelbeergestrüpp und Geröllhalden einstiger Bergrutsche bis empor zu den kahlen Felsen an der Schneegrenze.
«Warum bleibst du denn nicht bis Montagabend?«bettelte Mickey.»Wenn du morgen schon fährst, dann versäumst du doch das Feuerwerk.«
Kapitel 9
An Sonntagmorgen stand ich um ein Uhr auf der Veranda meiner Blockhütte, wartete, bis meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, und lauschte in die Nacht.
Ein leichter Wind raschelte im Laub. Ganz in der Ferne hupte ein Wagen. Im Schuppen brummte der Stromgenerator vor sich hin. Kein Geräusch drang aus Yolas Hütte. Den ganzen Abend nicht. Matt war noch nicht angekommen.
Mit leisem Bedauern hatte ich meine Reitstiefel in der Kabine zurückgelassen und trug an den Füßen nur dünne Tennisschuhe mit Gummisohlen und ein Paar Socken darüber. Leise schlich ich durch das Gebüsch und schob mich in weitem Bogen an die kleine Pferdekoppel heran; ein würziger Duft stieg mir in die Nase, wenn ich die silbergrauen Blätter durcheinander wirbelte. Der Halbmond schien hell genug, daß ich auch ohne Lampe sehen konnte, und Wolkenstreifen malten wechselnde Schatten auf den Boden. Das Wetter war wie bestellt.
Die Robustheit der Vorhängeschlösser war nur vorgetäuscht. Sie hatten innen einen einfachen Hebeltrieb, den ich in knapp fünf Minuten öffnen konnte. Das leise Klicken konnte niemand hören. Auch nicht das winzige Quietschen des Tors, als ich es öffnete. Ich schob mich hindurch und verteilte Würfelzucker an die Stuten und Fohlen. Der Braune mit der weißen Blesse quittierte den Zucker mit einem wiehernden Trompetenton, aber weder in Yolas Blockhütte noch im Schlafhaus der Stallburschen ging ein Licht an.
Das Sardinenpferd blähte zwar vorwurfsvoll die Nüstern, nahm aber den Zucker und ließ sich von mir das einfache Halfter überstreifen, das ich mitgebracht hatte. Geduldig streichelte ich ihm die Nase und tätschelte seinen Hals, und als ich auf das Tor zuging, kam er gehorsam mit. Ich öffnete das
Tor und führte ihn hinaus. Lautlos folgten uns die Stuten und Fohlen, und ihre unbeschlagenen Hufe klopften nur dumpf auf den Lehmboden.
Langsam führte ich meine kleine Prozession auf den Fluß zu; mit einigem Poltern überquerten wir die Holzbrücke, dann verschwanden wir im Dunkel der Nadelwälder. Die Stuten und ihre Fohlen begannen bald zu weiden, aber der braune Hengst mit der Blesse wurde plötzlich gewahr, daß er wieder frei war. In vollem Tempo preschte er an mir vorbei und galoppierte wiehernd den Pfad hinauf. Er machte dabei genausoviel Lärm wie ein ganzer Sonderzug voller Fußballfans. Aber von der Ranch her kam keinerlei Reaktion.
Der Sardinenhengst ließ sich nur unwillig mitziehen. Ich beruhigte ihn, dann gingen wir wieder weiter. Für meinen Geschmack suchte er sich seinen Weg zwischen den Steinen und Felskanten des schmalen Pfades allzu vorsichtig, aber ich durfte ihn nicht antreiben, ohne ein Risiko einzugehen. Mein Genick juckte, wenn ich daran dachte, daß man mich wegen Pferdediebstahls in Wyoming in ein Gefängnis sperren könnte. Aber das war noch nichts im Vergleich zu der Angst, daß Mickey mit dem recht behalten könnte, was er über die spindeldürren Beine gesagt hatte.
An mehreren Stellen verengte sich der Pfad bis auf doppelte Fußbreite; auf der einen Seite stieg steil die Felswand an, auf der anderen Seite ging es ebenso steil in den Abgrund. Wenn man bei Tag diesen Pfad entlangritt, mußte man sich einfach darauf verlassen, daß die Pferde nicht über die Kante stolperten, denn dann wären sie unweigerlich in einer Gesteinslawine hundert oder hundertfünfzig Meter tief abgestürzt. An diesen Stellen konnte man nicht neben einem Pferd her gehen. Ich zog den Hengst zollweise hinter mir her, und er setzte behutsam die Hufe zwischen die Steine und schlich mir nach.
Zwei- oder dreimal kamen wir an kleineren Herden von
Ranchpferden vorbei, die sich durch das leise Bimmeln der Glocken am Hals der Leittiere verrieten. Ihre dunklen Umrisse verschwammen mit dem unruhigen Hintergrund von Wald und Fels, und nur ab und zu fiel ein Schimmer Mondlicht auf ein schimmerndes Auge, einen Rumpf, einen schlagenden Schweif. Die Stallburschen mußten jeden Morgen nach den Pferden suchen, da man die Glocken nur aus nächster Nähe hören konnte. Ich hatte mich mit einem der Burschen ausführlich darüber unterhalten, und er hatte mir gezeigt, wie man es machte. Sie konnten meiner Spur in die Berge so leicht folgen, als hätte ich ihnen den Weg beschrieben, und nach dem Tau, der sich in den Hufabdrücken ansammelte, ließ sich auch der genaue Zeitpunkt bestimmen. Der Bursche hatte mir Hufabdrücke gezeigt und erklärt, wie viele Pferde wann vorbeigekommen waren, und ich hatte nichts weiter gesehen, als ein paar verstreute staubige Eindrücke. Die Burschen konnten auf dem Boden lesen wie in einem aufgeschlagenen Buch. Wenn ich versuchte, die Hufabdrücke des Sardinenpferdes zu verwischen, so verspielte ich gleichzeitig auch die Chance, daß die Clives vielleicht glaubten, der Hengst sei zufällig ausgebrochen. Die Abdrücke meiner Gummisohlen würde man, so hoffte ich, durch die Socken nicht mehr erkennen. Sonst hätte es sich gar nicht gelohnt, sie für einen so schwierigen Weg anzuziehen.
Nach etwa zwei Stunden hatte ich eine Höhe von rund dreieinhalbtausend Metern erreicht und gelangte ans Ende der Pfade, die ich in den vergangenen vier Tagen kennengelernt hatte. Von hier an konnte ich mich nur noch auf meine Nase verlassen. Die treibenden Wolkenfetzen warfen pechschwarze Schatten über die Felsen, und mehr als einmal blieb ich stehen und streckte tastend die große Zehe aus, um sicher zu sein, daß ich nicht geradewegs in irgendeinen Abgrund stolperte. Der Mond und der kalte Bergwind, der mir gegen die rechte Backe blies, dienten mir als Kompaß, aber der auf meiner Karte mit einer gepunkteten Linie eingezeichnete Bergpfad existierte mehr in der Einbildung als in der Wirklichkeit.
Die Beine des Hengstes hielten bemerkenswert gut durch. Meine hatten jetzt schon genug. Bergsteigen gehört nicht zu den normalen Aufgaben eines Beamten.