Der Gipfel des Grand Teton ragt 4196 m hoch in den Himmel. Mit seinen Schneeflecken und den teilweise abgeschmolzenen schwarzen Feldern hing er drohend nahe über mir. Ich stieß plötzlich auf einen schmalen Pfad, der sich schlangengleich durch das Gebüsch wand. Hier waren noch vor kurzem Menschen zu den Schneefeldern hinaufgestapft. Mit etwas Glück war ich auf den richtigen Weg gestoßen. Ich fror in meinem schwarzen Pullover mit dem dünnen Hemd darunter und wünschte mir nur, ich hätte Handschuhe mitgenommen. Aber weit konnte es nicht mehr sein — noch durch einen kurzen Canyon, dann auf der anderen Seite wieder hinaus auf das Plateau. Ich schaute auf die Uhr. Der Aufstieg hatte fast drei Stunden gedauert, ich war schon zu spät dran.
Im Canyon war es noch dunkler, aber hier konnte man mich auch vom Tal aus nicht entdecken. Ich zog die kleine Lampe aus der Tasche meiner Blue jeans und leuchtete auf den Weg. So kam die ganze Geschichte wieder in Gang.
Urplötzlich kam dicht vor uns ein Mann um eine Ecke und baute sich mitten auf dem Weg auf. Das Pferd war noch erschrockener als ich, scheute sofort, riß mir die Leine aus der Hand, und ich fiel zu Boden, als ich sie festzuhalten versuchte. Das Pferd preschte über einen schmalen Grat davon, der nach links abzweigte.
Mir war übel vor Wut, als ich mich aufrappelte, um ihm nachzulaufen. Der Mann kam einen Schritt näher und rief mir entgegen.
«Gene?«
Es war Walt.
Ich biß mir buchstäblich auf die Zunge, um meine Wut nicht an ihm auszulassen, dafür war jetzt keine Zeit.
«Ich hab’ Sie kommen sehen. Das Licht«, erklärte er.
«Ich wollte Ihnen nur ein Stück entgegengehen. Sie haben sich verspätet.«
«Ja. «Mehr sagte ich nicht. Es ging immerhin um eine halbe Million Pfund. Ich war verantwortlich dafür, es war mein Fehler.
Der Mond schob sich aus einer Wolke und schaltete klägliche 20 Watt ein. Da konnte ich das Pferd wieder sehen. Der Grat, den der Hengst entlanggeprescht war, hatte eine Breite von höchstens einem halben Meter; links nackter Felsen, und rechts ging ein Geröllhang in die Tiefe, so steil, als wäre es eine senkrechte Wand. Unten in der unsichtbaren Tiefe ragten sicher die üblichen Felsspitzen.
«Bleiben Sie hier stehen und verhalten Sie sich still«, sagte ich zu Walt.
Er nickte lautlos und wußte genau, daß eine Entschuldigung jetzt auch nichts nützte. Er hatte ausdrücklich Anweisung, an einer ganz bestimmten Stelle auf mich zu warten.
Das schmale Felsband war zehn Meter lang und machte eine Biegung nach links. Ohne die Taschenlampe zu benutzen, schob ich mich langsam voran und tastete mich mit der Linken an der Felswand entlang; das graue Licht reichte gerade aus, um mich die ausgezackte, rechte Kante des Wegs erkennen zu lassen.
Nach zehn Metern verbreiterte sich der Pfad zu einer tellerartigen Mulde, die zu drei Vierteln von himmelstürmenden Felsen umgeben war. Der abschüssige Boden der Mulde führte direkt zum steilsten Ende des Gerölls. Auf dem Boden lag zwischen groben, schwarzen Steinen noch etwas Schnee.
Hier stand der Hengst und schwitzte vor Angst. Er zitterte an allen Gliedern. Es gab nur einen Ausweg: zurück über den schmalen Grat.
Ich streichelte seine Nüstern, gab ihm vier Zuckerwürfel und redete ihm viel beruhigender zu, als mir selbst zumute war. Es dauerte zehn Minuten, bis die übermäßige Spannung aus seinen Muskeln wich, und weitere fünf Minuten, bevor er sich wieder rührte. Dann drehte ich ihn vorsichtig herum, bis er mit dem Kopf in der Richtung stand, aus der er gekommen war.
Pferde reagieren sofort auf Angstgefühle bei Menschen. Ich hatte nur eine einzige Chance, ihn zu retten: Ich mußte mich so sicher bewegen wie auf der betonierten Straße vor seinem Stall. Wenn er bei mir Angst witterte, kam er sicher nicht mit.
Kurz vor der schmalen Stelle scheute er. Ich gab ihm noch mehr Zucker und redete ihm wieder zu. Dann kehrte ich ihm den Rücken zu, legte mir das Halfter über die Schulter und ging langsam weiter. Ich spürte ein geringes protestierendes Zögern, dann kam er.
Noch nie sind mir zehn Meter so endlos erschienen. Doch der animalische sechste Sinn bewahrte den Hengst vor einem Fehltritt, und ich hörte hinter mir das gleichmäßige Hufeklappern auf dem rauhen, unebenen Felsboden.
Diesmal gab Walt überhaupt keinen Laut von sich. Er war ein Stück den Pfad vorausgegangen, und als er mich sah, drehte er sich wortlos um und ging weiter.
Nach knapp einer halben Meile senkte sich der Pfad in ein weites, flaches Becken. Hier sollte Walt mich eigentlich erwarten, und hier stand noch ein Mann und trat von einem Bein auf das andere, um sich warm zu halten.
Sam Kitchens. Er hielt ein zweites Pferd.
Ich nahm ihm das Halfter ab, während er mit einer starken Taschenlampe den Gaul, den ich mitgebracht hatte, zollweise untersuchte.
«Na?«fragte ich.
Er nickte.»Ja, das ist Chrysalis. Sehen Sie hier die winzige Narbe unter der Schulter? Als er zwei Jahre alt und ein bißchen übermütig war, hat er sich einmal an einem eisernen Torpfosten gerissen. Dann die schwarzen Punkte hier am Bauch, die wie Sommersprossen aussehen. Dann die Wirbel, die das Fell an der Innenseite der Schenkel bildet. Ein oder zwei Merkmale hat er an sich, die neu sind. Aber ganz abgesehen von der allgemeinen Gestalt sind das doch sichere Merkmale, die ich jederzeit vor einem Gericht beschwören kann.«
«War der Riß von dem Torpfosten so schlimm, daß ihn ein Veterinär behandeln mußte?«fragte ich.
Sam nickte.»Fünf oder sechs Stiche.«
«Gut«, sagte ich.»Dann hauen Sie mit ihm ab. Und passen Sie gut auf.«
Sam Kitchens grinste.»Wer hätte gedacht, daß ich ihn mitten in der Nacht in den Rocky Mountains wiederfinde? Machen Sie sich keine Sorgen, ich passe schon auf.«
Er drehte Chrysalis sehr geschickt herum, schnalzte liebevoll mit der Zunge und machte sich auf den meilenweiten Weg hinunter zum Campingplatz von Teton, wohin er mit Walt und Sam Hengelman in einem Pferdetransporter gekommen war.
Walt sagte:»Es ist für Sie doch zu spät, wieder zurückzugehen. Kommen Sie mit uns.«
Ich schüttelte den Kopf.»Wir treffen uns wie vereinbart in Idaho Falls.«
Walt machte eine abwehrende Geste.»Es ist für Sie nicht sicher, noch einmal zur Ranch zurückzugehen.«
«Ich komme schon zurecht. Treiben Sie nur Ihre beiden Sams ein bißchen an. Sie müssen bis zum Morgengrauen einen guten Teil des Wegs zurückgelegt haben. Den Kaufvertrag haben Sie
doch?«
Walt nickte und betrachtete das großrahmige Bergpferd neben mir.»Er kostet fünfhundert Dollar. Ein Brauner, völlig ohne Merkmale, sieben oder acht Jahre alt, wie bestellt. Das steht auf dem Kaufvertrag, und genau das haben wir auch im Pferdetransporter, falls uns jemand fragt. Sam Kitchens hat ihn ausgesucht. Er sagt, etwas Besseres könnte man nicht kriegen, es sei denn, man bezahlt ein paar tausend Dollar für einen Vollblüter.«
«Der hier sieht ganz gut aus. Bis später, Walt.«
Er wartete schweigend, während ich mich auf den bloßen Pferderücken schwang und die Zügel aufnahm. Dann nickte ich ihm zu, wendete und ritt den Pfad hinauf zum Canyon.
Es ist spät, dachte ich, fast zu spät. Um sechs Uhr sind die Stallburschen schon oben in den Bergen und treiben die Pferde zusammen. Die Gäste warten auch am Sonntagmorgen wie gewohnt auf ihren Ausritt. Es war schon fünf, der Mond verblaßte, und die erste graue Dämmerung kroch im Osten herauf. Wenn Sie mich so früh hier oben antrafen, gab es sicher Ärger.
In gemächlichem Trott trug mich mein neues Pferd den Canyon hinauf und an der gefährlichen Engstelle vorbei, die Chrysalis nur mit Mühe geschafft hatte; seine kräftigen Beine waren auf dem bergigen Gelände zu Hause, und bald schon ritten wir auf der anderen Seite in das Tal zur Ranch der Clives hinab. Hier hielt ich Ausschau nach einer Herde von High-Zee-Pferden, aber ich befand mich schon weit unterhalb der Schneegrenze, ehe ich die ersten Glocken hörte.