Um die Mittagszeit erhob ich mich hinter meinem Felsen und vertrat mir die Beine. Auch mein Hinterteil war vom langen Sitzen gefühllos geworden. Ich trank etwas von meinem Wasser, rauchte eine Zigarette und setzte die Sonnenbrille auf, weil die grelle Helligkeit zu leicht Kopfschmerzen hervorruft. Damit war mein Repertoire erschöpft. Ich hätte höchstens noch ein paar Schüsse aus meiner Parabellum abfeuern können. Also hockte ich mich wieder in den wandernden Schatten des Felsens und faßte erneut die Farm ins Auge.
Der Status quo blieb absolut unverändert. Vielleicht war Matt eingeschlafen. Vielleicht telefonierte er, oder er hatte den Fernseher eingeschaltet, oder er dachte sich etwas für seine Fahrt nach Las Vegas aus — ein neues Roulettesystem vielleicht. Jedenfalls betätigte er sich kaum als Farmer, und er schien auch keine Lust zu verspüren, die Pferde zu bewegen. Sie standen vom Morgen bis zum Abend in ihren engen Boxen.
Um zwei Uhr mittags kannte ich selbst die kleinste Pflanze auswendig, die rings um meinen Felsen wuchs. Mein Blick schweifte viel häufiger nach links über die weite Strecke der Wüste als zur anderen Seite, zur Farm hin. Die Wüste war auf ihre besondere Art sauber und klar, wild und schrecklich schön. Nur Berge und endloser Himmel. Ausgebleichter, staubiger Sand und stachelige Kakteen. Ein wildes, unnahbares, einsames Land.
Als ich zum erstenmal den Drang spürte, einfach in die Wüste hinauszulaufen, wandte ich schuldbewußt den Blick ab, beobachtete wieder die Farm, rauchte die zweite Zigarette und dachte intensiv an Matt und die Pferde. Aber das hielt nur für
eine Weile vor. Das kahle Land zog mich wie ein Magnet an.
Ich brauchte nur hinauszugehen, dachte ich, immer weiter geradeaus, bis ihre Leere mich ausfüllte. Dann hinsetzen, den Lauf der Parabellum an die Schläfe setzen, ganz einfach abdrücken. Kinderleicht. Schrecklich verführerisch.
Walt! dachte ich verzweifelt. Ich durfte das nicht tun, denn da war noch Walt und die nicht erledigte Aufgabe, auf die wir uns eingelassen hatten. Vor mir waren die Pferde. Sam Hengelman und Walt waren unterwegs. Es war unmöglich, sie so einfach im Stich zu lassen. Ich schlug mit der Hand gegen den Stein und zwang mich, wieder an die Farm und die vor uns liegende Nacht zu denken. Nachdem ich das alles Stück für Stück überlegt hatte, konzentrierte ich mich erst auf Yola, dann auf Offen, Eunice und Dave Teller, Keeble und Lynnie. Ich hielt mich krampfhaft an dem Gedanken fest, daß ihnen nicht gleichgültig war, was ich tat. Daß es überhaupt jemanden gab, dem nicht alles gleichgültig war.
Meine Hand blutete. Ich hatte es nicht einmal gespürt. Gleichgültig betrachtete ich die Hautabschürfungen und empfand Haß gegen mich selbst. Ich schloß die Augen, und die Verlassenheit in mir wurde so grenzenlos, daß mir davon schwindelte. Ich blickte in einen schrecklichen, schwarzen Abgrund, in dem es keine Hoffnung, kein Entrinnen gab. Langsam sank ich in Spiralen in den unendlich tiefen Brunnen einsamer Verzweiflung. Aus. Verloren.
Nach einer Weile hörte das Schwindelgefühl auf. Aber die ewige Dunkelheit blieb. Ich öffnete die Augen und schaute zur Farm hinunter, aber ich sah sie kaum. Ich zitterte und wußte genau, daß nicht mehr viel fehlte.
Matt kam aus dem Haus, ging über den Hof, warf einen Blick in den Pferdestall, ging wieder zurück. Wie durch einen Schleier beobachtete ich ihn. Wem waren die Pferde da unten schon wichtig? Was war noch wichtig? Wer scherte sich einen
Dreck um Abstammung, in hundert Jahren war das alles ja doch gleichgültig.
Dave Teller war es nicht gleichgültig.
Soll er doch!
Dave Teller war es zehntausend Dollar wert, was mit den Pferden passierte. Kristallklar erkannte ich, daß wir beide unseren Willen haben konnten, wenn ich nur den Gang in die Wüste bis zur nächsten Nacht verschob. Ich konnte die Pferde zusammen mit Hengelman wegschaffen und ihm dann nicht nach Kingman nachfahren, sondern zu Fuß losgehen. Und wenn es schon fast Morgen war, wenn in der ersten Dämmerung alles noch grau und schattenhaft wirkte, dann war es nur ein kleiner, ein ganz kleiner Schritt…
Dann.
Nachdem ich diesen Entschluß gefaßt hatte, der mir außerordentlich vernünftig vorkam, erfüllte mich ein tiefer Friede. Kein Kampf mehr, kein nutzloses Getue. Ich war erleichtert, entspannte mich, wurde ruhig. Warum war mir diese Lösung nicht schon eher eingefallen? All der Schweiß, die endlose Schlaflosigkeit, alles löste sich in ein gleichmäßiges, kühles Licht auf, das von innen kam.
Dieses Stadium dauerte an, bis ich mich daran erinnerte, daß ich einmal entschlossen war, es nie soweit kommen zu lassen. Dann beschlich mich ganz allmählich die erschütternde Überzeugung, daß ich mich nun aufgegeben hatte. Das war nicht nur verachtenswert, sondern wahrscheinlich sogar ein Zeichen von Geisteskrankheit.
Ich saß eine Weile da, stützte den Kopf in beide Hände und fürchtete mich davor, daß nun die gräßliche Übelkeit wiederkehren würde, nachdem der trügerische Friede zerbröckelt und dahingegangen war.
Sie kam nicht. Mich überfiel nur eine so unendliche Müdigkeit, daß alles, was ich bisher als Müdigkeit bezeichnet hatte, im Vergleich dazu nur noch ein Nadelkopf in einem ganzen Kontinent war. Der schreckliche Kampf ging weiter. Aber die bisher blutigste Schlacht hatte ich wenigstens überlebt. Ich hatte den Grund berührt und war wieder nach oben gekommen. Ich spürte, jetzt brauchte ich nur weiterzumachen und konnte das Ufer erreichen. Ein weiter Weg. Aber ich hatte ja genug Zeit.
Kapitel 17
Ich hatte einen Krampf in beiden Beinen. Als Matt aus dem Haus trat, wurde mir bewußt, daß der Schattenfleck gewandert war, ich aber nicht. Matt ging zum Stall, und ich rutschte mit verkrampften Muskeln dem Schatten nach.
Hier war es nicht viel kühler, doch ich war besser gegen Sicht geschützt. So saß ich da und wartete, bis Matt wieder aus dem Stall kam und ich meine Beine bewegen konnte. Am besten wäre es gewesen, aufzustehen und ein wenig herumzutrampeln, aber wenn Matt ganz in der Nähe jemanden bemerkte, der sich bewegte, dann war unser ganzer Plan erledigt.
Er holte Wasser für die Pferde, für die Kälber und die Hühner. Ich sah auf die Uhr und merkte erschrocken, daß es fast sechs Uhr war. Das kann nicht sein, dachte ich. Doch es stimmte. Vier Stunden, seit ich zuletzt nachgesehen hatte. Vier Stunden. Ich zitterte in der glutheißen Luft.
Matt holte einen leeren Eimer und verschwand im Stall, dann brachte er ihn gefüllt wieder heraus. Während des Nachmittags hatte ich bei der Überwachung versagt, aber ich war ziemlich sicher, daß sich auf der Farm nichts verändert hatte. Eines schien mir festzustehen: Matt hatte keine Helfer und keine Besucher, und wenn er nach Las Vegas fuhr, waren die Pferde wieder allein. Um diese Gewißheit zu erlangen, war ich zu einer ganztägigen Überwachung bereit gewesen und hatte mich dabei nicht gerade mit Ruhm bekleckert.
Matt schloß die Stalltür und ging ins Haus. Eine halbe Stunde später kam er in einem cremefarbenen Jackett und schwarzer Hose wieder heraus; er sah ganz anders als in den gewohnten Jeans und dem karierten Hemd aus. Er öffnete das Tor zum Autoschuppen, ging hinein, ließ den Motor an und fuhr den Wagen über den Hof. Bald darauf verschwand er um die Kurve
der Straße und fuhr in Richtung Kingman in die Wüste.
Befriedigt erhob ich mich. Der Krampf ließ nach. Müde kehrte ich zu meinem Auto zurück, das ich in zwei Meilen Entfernung versteckt hatte, und wünschte mir, die Nacht wäre schon vorbei und nicht gerade erst am Anfang. Ich hatte kaum genug Energie übrig, um noch eine Briefmarke aufzukleben.
Der von Matt aufgewirbelte Staub hatte sich gerade gelegt, als ich ihm über die verlassene Straße nachfuhr, aber er war immer noch in Kingman. Erschrocken sah ich ihn vor einer Tankstelle stehen, als ich vorbeifuhr, dann hielt ich fünfzig Meter weiter an und drehte mich um. Auf dem Hof der Tankstelle standen sein schwarzer Mietwagen und sein blauer Ford. Ein Mädchen in Overall tankte seinen Ford auf, und Matt ließ alle Anzeichen von Ungeduld erkennen. 19.20 Uhr, und noch 100 Meilen bis Las Vegas. Er würde zu seiner Verabredung mit Walt auf jeden Fall ein paar Minuten zu spät kommen.