In einer Tiefe von etwas mehr als zwei Metern stießen meine Finger auf Stoff. Selbst mit geöffneten Augen hätte ich nichts sehen können. Während ich versuchte, mit kräftigen Schwimmstößen wieder nach oben zu gelangen, tastete ich mit der Rechten nach seinem Gesicht. Ich fand es, klemmte ihm die Nase mit zwei Fingern zu und preßte den Handballen gegen seinen Mund. Dann drehte ich ihn so herum, daß ich ihn vor der Brust hatte. Er wehrte sich nicht. Er spürte nichts.
Von da an verlief die Rettung nicht mehr nach Plan. Ich kam nicht wieder an die Wasseroberfläche. Die Unterströmung war zu reißend und kalt, sie zog uns nach unten. Mit unwiderstehlicher Gewalt hielt sie unsere beiden Körper umklammert. Ein Gedanke schoß mir durch den Kopf: Wir werden gegen das Wehr schlagen und dort unten festgehalten — aus. Einen heimtückischen Augenblick lang war mir das sogar gleichgültig. Damit wären alle meine Probleme gelöst. Genau das wollte ich doch. Aber nicht mit einem anderen Leben in meinen Armen, für das ich buchstäblich die einzige Hoffnung darstellte.
Meine Lungen begannen vor Luftmangel zu schmerzen. Wenn wir gegen das Wehr stoßen, dachte ich, dann klettere ich hinauf. Die Oberfläche ist vielleicht nicht glatt und schlüpfrig. Es mußte möglich sein…
Plötzlich gab es einen Ruck, als ob ein Fischer uns geangelt hätte. Ich spürte, wie wir die Richtung etwas änderten, dann erfolgte ein zweiter Ruck. Diesmal war er kräftiger, und auch der Zug danach war stärker. Keine wunderbare Errettung. Das Wasser war es, das uns in den Klauen hatte, fester, unerbittlich, das uns aufs Wehr zu zog. Seine überwältigende Kraft spottete kleinen Menschenkräften und ließ mein Strampeln wie das Flattern eines Falters im Wirbelsturm wirken. Plötzlich saugte uns die ziehende Kraft noch schneller an, und wir prallten gegen ein Hindernis. Vielmehr war es Teller, der anschlug, und zwar mit einer Wucht, daß er mir beinahe aus den Armen gerissen wurde. Wir drehten uns im Strudel, meine Schulter stieß gegen Beton, dann drehten wir uns wieder und prallten noch einmal dagegen. Es gelang mir nicht, mich mit meiner freien Hand irgendwo festzuklammern. Das Wirbeln und Aufprallen ging weiter, und der Schmerz in meiner Brust drang immer tiefer ein. Ich wußte, daß ich kein Wehr emporklettern können würde. Ich konnte es nur finden, wenn ich dagegenprallte, und wenn ich danach griff, dann traf es mich schon wieder an einer anderen Stelle.
Das Aufschlagen hörte auf, aber wir trudelten weiter. In meinen Ohren toste es, als wollte mir der Schädel platzen. In meiner Brust war ein Schwert eingebettet. Stärker noch als vorhin überkam mich die Versuchung, einfach den Mund aufzumachen und alles zu beenden. Aber daran hinderten mich meine eigenen, seltsamen Regeln und Grundsätze: Ich brachte es nicht fertig, wenn ein anderer in die Sache verwickelt war und wenn ich etwas zu tun hatte, wofür ich ausgebildet worden war. Ein andermal, dachte ich benommen, ein andermal werde ich mich einfach ertränken. Diesmal warte ich, bis mein Verstand aus Sauerstoffmangel von allem aufgibt, was auch nicht mehr lange auf sich warten lassen wird; wenn ich daran nichts ändern kann, dann trifft mich auch keine Schuld.
Das Trudeln hörte mit einemmal auf, die übermächtige Strömung ließ nach und lockerte ihren tödlichen Griff. Ich war nur noch Sekunden von der Ohnmacht entfernt und kapierte zuerst nicht. Dann stieß ich mich mit den Beinen, die ich halb um Teller gewickelt hatte, leicht ab, und wir schossen nach oben, wie von einer Feder geschnellt. Mein Kopf durchstieß die Wasseroberfläche, ich sah den Sonnenschein, und wie silbernes Feuer strömte die Luft in meine verkrampften Lungen.
Das Wehr, das mörderische Wehr, war fünfzig Meter entfernt. Aber fünfzig Meter stromaufwärts! Wir waren glatt darunter weggetaucht.
Ich nahm meine steifgefrorenen Finger aus Tellers Gesicht, hob seinen Kopf an und blies Luft in seinen schlaffen Mund. Die nun sanfte, verhältnismäßig warme Strömung trug uns gemächlich davon. Kühle Bläschen sprudelten uns gegen das Genick. Ich trat mit den Beinen das Wasser, hielt Teller hoch und blies ihm weiter die kläglichen Reste meiner Puste in die
Lungen. Er reagierte nicht. Resigniert dachte ich, wie außerordentlich unzuvorkommend das doch von ihm wäre, wenn er gleich am Anfang schon gestorben wäre und ich mich ganz umsonst abgestrampelt hätte.
Plötzlich hörte ich Rufe vom Ufer her. Leute zeigten auf uns, und jemand kam in einem kleinen Boot mit Außenborder auf uns zugeschossen. Der Motor tuckerte geräuschvoll neben meinem Ohr. Jemand streckte die Hand über Bord.
Ich schüttelte den Kopf.»Ein Seil!«rief ich und beatm ete wieder Teller.»Los, ein Seil. Und dann langsam ziehen.«
Einer der beiden Männer war anderer Meinung, aber der zweite tat, was ich verlangte. Ich wand mir das Seil zweimal um den Arm und packte es. Als ich nickte, ließen sie das Boot weggleiten, bis ich von der Schraube weit genug entfernt war. Dann zogen sie uns langsam aufs Ufer zu.
Unterwegs verpaßte ich Teller über zehn meiner reichlich verbrauchten Atemzüge. Sie schienen ihm nicht zu helfen.
Das kleine Boot zog uns aus der gischtenden Hälfte des Flusses unterhalb des Wehrs ins ruhige Wasser auf der Schleusenseite. Eine ganze Traube hilfreicher Leute erschien. Zweifellos war Hilfe vonnöten, aber ich ließ Teller nur ungern los, bis schließlich ein hochgewachsener, ruhiger Mann aus der Menge auftauchte, sich flach auf den Bauch legte und seine Hände unter die Schultern des Amerikaners schob.
«Keine Sorge«, sagte er,»wir beatmen ihn gleich weiter.«
Ich nickte, nahm meinen Mund von Tellers Lippen und überließ sein Gewicht dem Fremden. Er zog ihn so rasch wie möglich aus dem Wasser. Ich stützte dabei Tellers Brustkasten und spürte unter meiner Hand plötzlich einen tiefen Atemzug. Meine Luft reichte nicht mehr aus, es dem Fremden mitzuteilen, aber Teller machte sich selbst durch ein halbersticktes Husten bemerkbar, als er schon halb aus dem Wasser war. Er schlug die Augen auf. Der Fremde zerrte ihn noch rascher hinauf aufs Gras. Als Tellers Knöchel hart gegen die Betonkante schlugen, machte sich sein wiederkehrendes Bewußtsein auf eine Weise Luft, die nichts mit Erleichterung über das knappe Entrinnen vom Tod durch Ertrinken zu tun hatte. Mitten zwischen einem Seufzer und einem Aufstöhnen murmelte er» Jesus!«und wurde wieder schlaff.
Ein zweites kräftiges Händepaar zerrte mich an Land. Ich kniete neben ihm nieder und befühlte die glücklicherweise nur kleine Schwellung an der Schläfe. Sein gurgelndes, mühsames Atmen machte mir allerdings Kummer.
«Umdrehen«, sagte ich.»Vorsichtig, damit er nicht seine Zunge verschluckt.«
Wir legten ihn auf die Seite. Sofort atmete er leichter, aber ich ließ nicht zu, daß man ihn hochhob und zur Schleuse trug. Fast jede Verletzung wird nur schlimmer, wenn man den Verletzten transportiert, und er war schon genug herumgezerrt worden. Der ruhige Fremde stimmte mir zu und rannte nach einem Arzt.
Der Schleusenwärter kam den Fußweg entlang. In seinem Kielwasser folgte die Familie Keeble. Ihre Gesichter waren vom Schreck gezeichnet, und Lynnie hatte geweint.
«Gott sei Dank!«rief Keeble und ging neben mir in die Hocke.»Ihr seid beide noch da!«Das klang mehr ungläubig als erleichtert.
Ich schüttelte den Kopf.»Er hat sich irgendeine Verletzung zugezogen.«
«Schlimm?«
«Weiß nicht. Er ist gegen das Wehr gekracht.«
«Wir haben euch gar nicht über das Wehr gehen sehen. Wir beobachteten.«
«Sie müssen drunter hergetaucht sein«, sagte der Schleusenwärter.»Durch eines der Schleusentore. Die Teile des Wehrs lassen sich wie Schiebefenster nach oben ziehen. Heute hatten wir zwei davon ein Stück hochgekurbelt, weil der Fluß nach dem vielen Regen ‘ne Menge Wasser führt.«
Ich nickte.
Dave Teller würgte und kam wieder zu sich. Das Wasser in seinen Lungen löste einen heftigen Hustenanfall aus. Jede Erschütterung bereitete ihm sichtlich Schmerzen. Eine flüchtige Handbewegung machte deutlich, wo der Kummer zu suchen war.