«Sein Bein«, sagte Keeble.»Es blutet nicht — vielleicht gebrochen?«
Der Ruck, als wir gegen das Wehr krachten, hätte dazu ausgereicht. Ich sagte es ihm.»Wir können momentan nichts für ihn tun«, meinte Keeble und betrachtete Dave Teller mit hilfloser Miene.
Die Menge ringsum wartete wie ein Mann. Sie murmelten mitfühlend, aber dabei genossen sie das Unglück. Sie lauschten Tellers Husten und sahen zu, wie er vor Schmerzen die Hände ins Gras krallte. Sinnlos, diese Leute zu ersuchen, wegzugehen.
«Was ist aus dem Flachboot geworden?«fragte ich Keeble.
«Wir haben es ans Ufer geschleppt. Lynnie hat das Seil erwischt. Die beiden jungen Leute waren zu Tode erschrocken. «Er schaute sich flüchtig nach ihnen um, aber sie befanden sich nicht in der Menschenmenge.»Sind vermutlich hinten an der Schleuse geblieben. Das Mädchen hat fast einen hysterischen Anfall bekommen, als Sie und Dave nicht mehr auftauchten. «In der Erinnerung wurde sein Gesicht ausdruckslos.»Wir haben sie in die Fahrrinne geschleppt und dort festgemacht. Dann sind wir die Schleusenkammer entlanggelaufen, um den Schleusenwärter zu holen, aber der war bereits hier unten. «Er blickte über den Fluß zu dem hübschen Wehr hinüber.»Wie lang wart ihr unter Wasser?«
«Ein paar Jahrhunderte.«»Nein, im Ernst.«
«Kann ich nicht genau sagen. Vielleicht drei Minuten.«
«Das reicht.«
«Mhm.«
Er betrachtete mich sachlich, wieder ganz der Chef. Mein grünes Jerseyhemd war auf einer Schulter eingerissen.
«Verletzt«, stellte er nüchtern fest.
«Das Wehr hat ein paar Buckel«, pflichtete ich ihm bei.
«Da unten sieht’s aus wie eine richtige Treppe«, erklärte der Schleusenwärter ernsthaft.»Sie führen vom oberen Niveau bis zum unteren herab, wissen Sie. Ich nehme an, die Strömung muß Sie diese Stufen runtergerollt haben. Wenn Sie mich fragen — ein wahres Wunder, daß Sie überhaupt wieder hochgekommen sind! Jedes Jahr fallen ein paar Leute in den Fluß, und die kriegt man nie wieder zu sehen. Die Strömung nimmt sie dicht über dem Grund mit bis hinaus ins Meer.«
«Wie reizend«, murmelte Keeble.
Dave Teller hörte zu husten auf, rollte sich auf den Rücken und biß sich in den Handrücken. Seine kräftige Hakennase ragte schroff in den Himmel, und die Feuchtigkeit auf seinem Gesicht stammte nicht von der Themse. Nach einer Weile ließ er die Hand sinken und erkundigte sich bei Keeble, was eigentlich geschehen sei. Keeble erklärte es ihm mit wenigen Worten, und die halb geschlossenen Augen wandten sich mir zu.
«Ein Glück, daß wir Sie dabei hatten«, sagte er matt. In seiner Stimme lag ein Lächeln, aber es schaffte den Weg bis auf sein Gesicht nicht. Behutsam betastete er seinen Schädel und ächzte, als er die Beule erreichte.»Ich kann mich an nichts mehr erinnern.«
«Auch nicht daran, daß Sie mich baten, Ihr Pferd zu suchen?«
Er nickte langsam und sehr vorsichtig.»Doch. Sie haben nein gesagt.«
«Ich hab’s mir anders überlegt. Ich tu’s.«
Keeble schaute mir in der Kabine der >Flying Linnet< zu, wie ich langsam meine durchnäßten Sachen abstreifte. Ich hatte unter dem Wehr anscheinend gut die Hälfte meiner Muskeln eingebüßt. Die Knöpfe wollten nicht aus ihren Löchern schlüpfen.
«Sie haben gehört, was er sagte«, bemerkte Keeble.»Es war ein Glück, daß wir Sie bei uns hatten.«
Ich gab ihm keine Antwort.
«Das sollten Sie sich hinter die Ohren schreiben«, fuhr Keeble fort.»Bleiben Sie. Man weiß nie, wann man gebraucht wird.«
«Klar«, murmelte ich und wollte nicht zugeben, daß ich genau verstanden hatte, worauf er anspielte.
Er ließ sich nicht ablenken.»Sie sind ebenso unersetzlich wie Daves Pferd.«
Meine Lippen zuckten. Genau das war es. Er würde es etwas schwerer haben. Mit persönlichen Gefühlen hatte das nichts zu tun.
Ich wand mich aus dem Hemd. Er reichte mir ein Handtuch und betrachtete ausdruckslos die Male dieser und früherer Aktionen.
«Ich meine es ernst, Gene.«
«Ja. «Ich seufzte.»Na ja, ich bin ja noch da.«
Das war schon fast zuviel des Zugeständnisses, aber es schien ihn zumindest so weit zu beruhigen, daß er das Thema wechselte.
«Warum fliegen Sie nun doch in die Staaten?«
«Weil ich es ihm schuldig bin — vielleicht.«»Wem? Dave?«
Ich nickte.
«Versteh’ ich nicht«, sagte er stirnrunzelnd.»Wenn einer einem etwas schuldig ist, dann doch sicher er Ihnen, oder?«
«Nein. Wenn ich schneller gewesen wäre, so wäre er gar nicht über Bord gefallen und hätte sich nicht die Hüfte zerquetscht. Zuviel Whisky und Wein, zuviel Dösen in der Sonne. Ich war viel zu langsam. Miserabel und schandbar langsam!«
Er machte eine ungeduldige Handbewegung.»Machen Sie sich nicht lächerlich, Gene. Mit Schnelligkeit läßt sich so ein Unfall nicht verhüten.«
Ich schlang mir das Handtuch um den Hals und begann meine Hose auszuziehen.
«Dieser Unfall war ein Mordversuch«, sagte ich knapp.
Er starrte mich an. Dabei blinzelte er langsam hinter der Brille. Dann wandte er sich ab, öffnete die Kabinentür und trat hinaus ins Cockpit. Ich hörte, wie er nach Peter rief.
«Komm sofort aus dem Kahn! So ist’s recht. Und laß keinen anderen hinein, das ist wichtig!«
«Nicht einmal Lynnie?«
«Nicht einmal Lynnie.«
«Fällt mir auch gar nicht ein«, hörte ich Lynnie kläglich vom Cockpit her sagen.»Ich hab’ die Nase von solchen Flußkähnen voll.«
Sie hatte nicht viel von ihrem Vater mitbekommen. Er war so zäh wie altes Leder. Nun schob er seine untersetzte Gestalt wieder in die Kabine und schloß die Tür.
«Überzeugen Sie mich«, forderte er mich auf.
«Die beiden haben sich dünngemacht.«
Er hob die Augenbrauen und wehrte ab.»Sie hatten Angst.«
«Sie haben keinerlei Fragen abgewartet. Sie müssen damit gerechnet haben, daß Dave und ich tot waren, da sie nicht einmal lange genug warteten, sich zu vergewissern. Ich würde sagen, sie hatten nur keine Lust, sich vernehmen zu lassen.«
Er schwieg und überlegte. Als wir nämlich zu der Schleuse zurückkehrten, waren die beiden verschwunden. Sie hatten sich unbemerkt verzogen und den Flußkahn zurückgelassen. Keiner hatte an sie gedacht, bis der Arzt Dave Tellers Bein geschient hatte und der Patient auf einer Trage zu dem wartenden Ambulanzwagen gebracht worden war. Als der Arzt sich erkundigte, wie es zu dem Unfall gekommen sei, war die Ursache nicht mehr vorhanden.
«Das wissen wir nicht«, sagte Keeble.»Möglich, daß sie den Fußweg heruntergekommen sind und gesehen haben, daß ihr beide wohlbehalten gelandet wart. Dann können sie ein Dutzend verschiedener persönlicher Gründe dafür haben, daß sie nicht warten wollten.«
Ich hatte endlich die Beine aus der klammen Hose und schälte mir die Socken von den Füßen.
«Der Junge hat im Heck zu lange abgewartet. Er hätte ihr mit dem Seil helfen müssen.«
Keeble runzelte die Stirn.»Sicher machte er einen sorglosen Eindruck, aber ich meine, ihm ist nur nicht klar gewesen, in welcher Klemme sie saßen — jedenfalls nicht so klar wie dem Mädchen.«
«Und bei der ersten Bewegung, die er machte, traf er Dave genau am Kopf.«
«Diese Staken sind recht unhandlich, wenn man nicht aufpaßt. Er konnte nicht damit rechnen, daß Dave an einer so gefährlichen Stelle stand.«
«Da er sich um die Bugleine kümmerte, stand Teller doch schon die ganze Zeit über dort.«»Das konnten der Junge und das Mädchen nicht wissen.«
«Jedenfalls stand er im Bug, als wir uns dem Kahn näherten.«
«Außerdem begibt sich doch niemand in eine solche Gefahr, nur um jemandem eine Falle zu stellen!«erklärte Keeble entschieden.
Ich trocknete mir die Beine ab und überlegte, was ich mit meiner Unterhose machen sollte.