Seine Kraftreserven sind fast verbraucht. Seine geistigen Signale sind schwach. Er kann die Energie nicht aufbringen, ihr zu sagen, daß sie wieder die Wirklichkeit ausschließt, daß ihre Eltern tot sind, daß die Zeit vergeht, während sie hier liegt, daß es zu spät ist für eine Feier zum sechzehnten Geburtstag.
— Wir sprechen wieder darüber — ein andermal, Satina. Ich… sehe… dich… morgen… wieder. Morgen… vormittag…
— Gehen Sie nicht so früh, Doktor!
Aber er kann die Verbindung nicht mehr aufrechterhalten und läßt sie zerbrechen.
Mookherji stand auf und schüttelte den Kopf. Jammerschade, dachte er. Jammerschade. Er ging auf wackligen Beinen hinaus und blieb einen Augenblick im Flur stehen, an eine geschlossene Tür gelehnt, um sich die Stirn zu wischen. Er kam mit Satina nicht voran. Nach der ursprünglich ermutigenden Periode des Kontaktes war es ihm völlig mißlungen, die Tiefe ihres Komas zu mildern. Sie hatte es sich in ihrer wahnhaften Welt bequem gemacht, und er fand keinen Weg, sie herauszusprengen, Telepathie hin, Telepathie her.
Er atmete tief ein, kämpfte das zunehmende Gefühl trostloser Entmutigung nieder und ging zum Zimmer des nächsten Patienten.
Die Operation verlief glatt. Zwei Dutzend Medizinstudenten im sechsten Semester bevölkerten die Zuschauergalerie des OP-Saals im zweiten Stock der Klinik, studierten Dr. Hammonds erfahrene Technik durch direkte Beobachtung und gleichzeitige mikroverstärkte Wiedergabe auf ihren Bildschirmen. Der Patient, ein Gehirntumoropfer Ende Sechzig, war nur als Kopf- und Schulterstück sichtbar, das aus einer Lebenserhaltungskammer ragte. Sein Schädel war rasiert; blaue Linien und dunkelrote Punkte waren aufgemalt, um die inneren Schädelkonturen zu zeigen, wie sie vorher durch Kurzstrecken-Sonarechos festgelegt worden waren; der Chirurg hatte die Lasergeräte justiert, mit denen der Tumor excidiert werden sollte. Der schwierige Teil war vorbei. Jetzt brauchten nur noch die Laser auf volle Leistung gebracht zu werden, damit sie ihre grellen, präzisen Lichtblitze in das Gehirn des Patienten schicken konnten. Gehirnchirurgie dieser Art verlief völlig unblutig; man brauchte Haut und Knochen nicht zu durchschneiden, um den Tumor bloßzulegen, denn die Laserstrahlen, die auf ein Fünfzigtausendstel Millimeter eingestellt waren, würden durch winzigste Öffnungen eindringen, den Tumor von verschiedenen Seiten her erreichen und die bösartige Geschwulst zerstören, ohne das gesunde Gehirngewebe ringsum zu schädigen. Bei einer Operation wie dieser war Planung alles.
Sobald die genauen Umrisse des Tumors gemessen und die Chirurgie-Laser im richtigen Winkel angeordnet waren, konnte jeder Assistenzarzt den Rest bewältigen.
Für Dr. Hammond war es ein Routinefall. Er hatte allein im zurückliegenden Jahr hundert Eingriffe dieser Art durchgeführt. Er gab das Signal; die Warnlampe an der Laser-Schalttafel leuchtete auf; die Studenten beugten sich erwartungsvoll vor —
Und gerade in dem Augenblick, als das funkelnde Feuer der Laser zum Operationstisch schoß, verzerrte sich das Gesicht des narkotisierten Patienten auf unheimliche Weise, so, als sei ein entsetzlicher Traum aus den Tiefen seines Unterbewußtseins emporgestiegen. Seine Nasenflügel blähten sich; die Lippen dehnten sich, die Augen wurden weit aufgerissen; er schien schreien zu wollen; er bewegte sich krampfhaft und drehte den Kopf. Die Laserstrahlen drangen tief in die linke Schläfe des Patienten, weitab von der Tumorzone. Seine rechte Gesichtshälfte erschlaffte. Alle Muskeln dort waren gelähmt. Die Medizinstudenten starrten einander verwirrt an. Dr. Hammond behielt trotz seiner Betäubung soviel Geistesgegenwart, daß er mit einer blitzschnellen Bewegung die Laser abschaltete. Er umklammerte in seiner Erregung den Operationstisch mit beiden Händen und starrte auf die Skalen und Meßgeräte, die ihm die Einzelheiten der verpfuschten Operation verrieten. Der Tumor war unverletzt; ein großer Bereich des Patientengehirns war verwüstet.
»Unmöglich«, murmelte Hammond. Was konnte einen Patienten in Narkose dazu veranlassen, sich so heftig zu bewegen. »Unmöglich. Unmöglich.« Er ging zur Lebenserhaltungskammer und las die Werte ab. Die Frage war nicht mehr, ob der Gehirntumor erfolgreich entfernt werden konnte, sondern im Augenblick nur noch, ob der Patient überleben würde.
Bis vier Uhr nachmittags hatte Mookherji fast alle Arbeiten bewältigt. Er war bei allen Patienten gewesen; er hatte seine Kurven auf den neuesten Stand gebracht; er hatte dem Zentralcomputer einen Prognoseabriß eingefüttert; er hatte sogar Zeit für ein schnell hinuntergeschlungenes Mittagessen gefunden. Normalerweise hätte er nun die nächsten vier Stunden freigenommen, in seinem spartanischen Zimmer am Rande des Gebäudekomplexes ein bißchen geschlafen oder im Erholungszentrum etwas Schwebetennis gespielt, sich die neueste Würfel-Schau angesehen, oder was auch immer. Die nächste Visite war erst für acht Uhr abends vorgesehen. Er konnte sich jedoch nicht entspannen; die Sache mit den Raumfahrern in Quarantäne ließ ihm keine Ruhe. Nakadai hatte seit zwei Uhr Untersuchungsergebnisse übermittelt, die nun in Mookherjis Datenterminal warteten. Da keines den Vermerk ›Dringend‹ trug, hatte Mookherji sie sich ansammeln lassen, aber nun glaubte er, einen Blick darauf werfen zu müssen. Er drückte die Tasten des Terminals für die Wiedergabe, und Nakadais Ergebnis schob sich heraus.
Mookherji blätterte in den gelben Seiten. Reflexe, Synapsenladung, Grad der Neuralionisierung, Endokringleichgewicht, Sehreaktion, Atmung und Kreislauf, Molekularaustausch im Gehirn, EEG… Nein, nichts Ungewöhnliches dabei. Nach den Untersuchungsergebnissen war klar, daß die sechs Männer, die Nortons Stern besucht hatten, dringend Urlaub brauchten — strapazierte Nerven, unklare Reflexe — aber es gab keinen Hinweis für etwas Ernsteres als chronischen Schlafmangel. Er fand keine Anzeichen für Gehirnläsionen, Infektion, Nervenschädigung oder andere organische Schäden.
Woher also die Alpträume?
Er tippte die Rufnummer von Nakadais Büro.
»Quarantäne«, sagte eine knappe Stimme sofort, und Augenblicke danach erschien Nakadais Gesicht auf dem Bildschirm.
»Hallo, Pete, ich wollte dich eben anrufen.«
»Ich bin gerade erst fertig geworden, habe mir aber die Ergebnisse von dir angesehen. Lee, ich habe nichts Außergewöhnliches gefunden.«
»Wie ich mir dachte.«
»Und die Männer? Du solltest mich anrufen, wenn einer von ihnen Alpträume bekommt.«
»Das war bei keinem der Fall. Falkirk und Rodriguez schlafen seit elf Uhr wie die Murmeltiere. Schmidt und Carroll durften um halb eins schlafen. Webster und Schiavone haben sich um drei Uhr hingelegt. Alle sechs schnarchen um die Wette und schlafen wie seit Jahren nicht mehr. Ich habe sie an alle möglichen Geräte angeschlossen, und alles ist völlig normal. Soll ich dir die Daten zuleiten?«
»Wozu? Was habe ich davon, wenn sie nicht halluzinieren?«
»Heißt das, daß du die Gedankensondierung heute abend nicht machen willst?«
»Ich weiß nicht«, sagte Mookherji achselzuckend. »Ich vermute, daß das wenig Sinn haben wird, aber lassen wir das noch offen. Ich bin mit der Abendvisite gegen elf Uhr fertig, und wenn es einen Anlaß gibt, in den Köpfen der Raumfahrer nachzusehen, mache ich das.« Er runzelte die Stirn. »Aber hör mal — haben sie nicht gesagt, daß sie in jeder, aber auch wirklich jeder Schlafschicht von den Alpträumen heimgesucht worden sind?«
»Richtig.«
»Und jetzt schlafen sie zum erstenmal außerhalb des Schiffes, seitdem die Alpträume angefangen haben, und keiner hat Schwierigkeiten. Und es gibt keine Hinweise auf möglicherweise halluzinationserregende Gehirnläsionen. Weißt du was, Lee? Ich fange an, auf eine sehr alberne Hypothese zurückzukommen, die die Männer heute vormittag aufgestellt haben.«