Als Jacob das sah, ließ er sich abermals in den Schlamm fallen. Keine Sekunde zu früh. Der Maat schoß. Die Kugel flog dicht über den jungen Deutschen hinweg.
Dieser hörte einen Schrei aus der Richtung des Hauses und blickte überrascht auf.
Frenchy hatte den langgezogenen Schmerzensschrei ausgestoßen. Er stand mit dem Rücken zur hölzernen Hotelwand.
Elihus behelfsmäßige Harpune steckte in seiner Brust, gerade über dem sich vorwölbenden Bauch. Die Waffe des Harpuniers hatte den Maat regelrecht ans Haus genagelt.
Frenchy hatte den Revolver fallen gelassen und umklammerte mit beiden Händen den Harpunenschaft. Er wollte die Waffe aus seinem Körper ziehen. Er zerrte die Harpune soweit hervor, daß er von dem Haus loskam.
Dann taumelte er und stürzte mit einem Röcheln zu Boden. Dort blieb er liegen, rührte sich nicht mehr. Die Harpune steckte noch in seiner Brust.
»Fahr zur Hölle, du hast es verdient!« schrie Elihus rauhe Stimme hinter Jacob.
»Du auch, Bartgesicht!« erwiderte Petrov und legte seinen Remington-Revolver auf den Harpunier an.
Elihu stand aufrecht im Regen, zwei Schritte hinter Jacob, waffenlos.
»Neeeiiin!« schrie der Auswanderer und schleuderte seine Axt gegen Petrov.
Gleichzeitig zog der russischstämmige Seemann den Abzug seines Remingtons durch.
Der Schuß krachte, bevor die von Jacob geschleuderte Axt den Schützen traf.
Die breite Seite des Axtblattes prallte gegen Petrovs Kopf. Der Getroffene machte einen unsicheren Schritt nach hinten und stürzte auf den hölzernen Boden des Vorbaus.
Da Jacob nicht sicher war, den Russen längerfristig ausgeschaltet zu haben, sprang er auf und hetzte zum Vorbau. Dort sah er, daß er sich nicht so hätte zu beeilen brauchen. Das Axtblatt hatte eine tiefe, stark blutende Wunde in Petrovs Kopf geschlagen. Der Maat war bewußtlos.
Es konnten noch mehr Gangster aus dem Haus kommen. Zwar ertönten von vorn keine Schüsse mehr, was auf einen Sieg des Lieutenants hinwies, aber möglicherweise flohen einige Gangster durch das Hotel. Deshalb nahm Jacob die Revolver der beiden Seeleute an sich.
Dabei stellte er fest, daß Frenchy tot war.
Er kümmerte sich nicht weiter darum. Die Sorge um den Freund trieb ihn wieder hinaus in den Regen.
Petrovs Kugel mußte Elihu getroffen haben. Der Harpunier kniete im Schlamm und schwankte von einer Seite zur anderen, als er sich bemühte, nicht vollends umzukippen.
Es wirkte wie ein Todeskampf!
Und es war einer. Das sah Jacob sofort, als er bei Elihu anlangte. Die Kugel war in die Brust des Harpuniers gedrungen, dicht neben dem Herzen.
Zu dicht!
Elihu hob den Kopf, als Jacob vor ihm stand, und fragte mit brüchiger Stimme: »Haben wir. die beiden. erwischt?«
»Ja.«
Jacob konnte nicht mehr sagen. Seine Stimme machte da nicht mit.
Der Auswanderer wußte, daß sein Freund verloren war. Der starke Blutverlust ließ keinen anderen Schluß zu.
Und trotzdem wollte er es nicht wahrhaben. Er dachte daran, wie er Elihu aus dem Lagerhaus geholt hatte. Sollte das vergebens gewesen sein, nur ein kurzer Zeitaufschub, den Gevatter Tod dem Seemann gewährt hatte?
»Tut mir leid«, röchelte Elihu.
»Was denn?«
»Habe dir doch. versprochen. deine Freundin Irene. mit dir zu befreien.«
»Das wirst du auch«, versicherte Jacob gegen sein besseres Wissen.
Der Harpunier schüttelte schwach den Kopf.
»Nicht. etwas vormachen. Jake.«
Das waren seine letzten Wort. Das bärtige Gesicht sackte auf die Brust. Die starken Arme, auf die Elihu sich gestützt hatte, versagten ihren Dienst.
Jacob griff nach dem Freund, wollte ihn auffangen. Aber der nasse, glitschige Körper entglitt seinen Händen.
So wie Piet Hansens Leichnam nach dem Untergang der ALBANY Jacob entglitten und in den Tiefen des Pazifiks verschwunden war.
Wieder hatte Jacob einen guten Freund verloren. Auch wenn er Elihu erst seit kurzem kannte, er hatte sich dem rauhen, aufrichtigen Harpunier so nah gefühlt wie kaum einem Menschen sonst, den er in Amerika kennengelernt hatte.
Hufgetrappel riß den Auswanderer aus seiner Trauer. Eine ganze Herde stürmte aus einem Stall. Alles reiterlose Tiere, die, von irgend etwas aufgeschreckt, in die Gewitternacht hinausliefen.
Dann sah er den Grund für die Panik der Pferde: drei Reiter, die den Stall zuletzt verließen - zwei Männer und eine Frau. Die beiden Männer, Bremer und Stanford, trieben die Pferde mit lautem Geschrei vor sich her. Die Frau war Shu-hsien.
Die Absicht der beiden Gangster war klar: Sie wollten den Männern, die das Hotel erstürmten, eine Verfolgung erschweren.
Jacob riß die beiden erbeuteten Revolver hoch, um auf die Gangster zu schießen.
Aber alles ging zu schnell.
In dem Durcheinander bestand außerdem die Gefahr, daß er Shu-hsien traf.
Dann war der Spuk auch schon vorüber. Reiter und reiterlose Pferde waren hinter dem Regenschleier verschwunden.
Unschlüssig blickte Jacob zur Straße und dann wieder auf den toten Freund. Er fühlte sich hin und her gerissen zwischen dem Verlangen, sofort die Verfolgung der Gangster aufzunehmen, und dem Gefühl, den Toten jetzt nicht verlassen zu dürfen. Nicht in der trostlosen Einsamkeit des Hinterhofes.
Stimmen durchbrachen das Rauschen des Regens und damit die Einsamkeit.
Der große Mann aus Deutschland, der neben dem toten Freund im Schlamm kniete, schaute auf.
Fünf oder sechs Männer traten auf den Vorbau, wo Petrov und Frenchy lagen. Unter den Männern befanden sich Reverend Hume und Lieutenant Wannaker.
Als der Offizier Jacob erkannte, rief Wannaker: »Wir haben die Gangster überwältigt. Ist bei Ihnen alles in Ordnung, Adler?«
»Nein«, erwiderte Jacob traurig. »Eli ist tot.«
*
Henry Black lief wie ein aufgescheuchtes Huhn durch das Golden Crown.
Jetzt, wo das riesige Haus fast menschenleer war, wirkte es unheimlich auf seinen ehemaligen Besitzer. Zum Teil lag das sicher an den vielen Spiegeln, in denen er sich immer wieder selbst sah und aus denen ihn doch - so sein nicht näher bestimmbares Gefühl - fremde Augen anzublicken schienen. Aber wenn er näher hinsah, war da nichts außer seinem Abbild: der wuchtige Geschäftsmann mit der verbundenen Linken.
Nur widerwillig dachte er an die Szene im Büro des Hais. Als er danach in sein eigenes Büro zurückkehrte, hatte er den Aschenbecher wütend gegen den großen Spiegel an der Wand geschleudert. Aschenbecher und Spiegel zersprangen in tausend kleine Splitter.
Kurzzeitig fühlte sich Black danach besser. Doch die Übelkeit schlug wieder zu, stärker als zuvor. Ein unwiderstehlicher Brechreiz übermannte ihn. Er lief in den kleinen Waschraum, beugte sich über die Wasserschüssel und gab dem Gefühl nach.
Auch hier gab es einen großen Spiegel. Als Black sich erleichtert hatte, dachte er daran, ihn ebenfalls zu zerschlagen. Er hatte die zur Faust geballte Rechte schon erhoben, aber er ließ sie unverrichteter Dinge wieder sinken.
Es hatte keinen Sinn. Die Schuld traf nicht die Spiegel, die ihm seine verstümmelte Hand zeigten und ihn an seine Schmach erinnerten.
Die Schuld traf den Mann, der ihm die Schmach zugefügt hatte - den Hai!
Aus einem sauberen Handtuch fertigte er einen festen Verband für die linke Hand an.
Dann verließ er das Büro und trommelte alle Männer aus der Bande des Hais zusammen, die er im Golden Crown auftreiben konnte.
Die meisten fand er im Saloon und im Spielsalon. Sie machten sich die Abwesenheit von Gästen zunutze, um sich zu vergnügen.
Er ermahnte sie zur Wachsamkeit und postierte sie an allen neuralgischen Punkten.
Ein paar Männer schickte er hinaus, um Verstärkung heranzuholen. In dieser aufgeregten Nacht brachte es nicht viel, den üblichen Geschäften nachzugehen, die von Zuhälterei über Betrug bis zu Erpressung, Raub und Mord reichten. Jetzt war es wichtiger, wenn die Männer das Hauptquartier des Hais bewachten.