Der Regen, der ganz San Francisco aufatmen ließ, führte bei Henry Black zu neuen Sorgen.
Wenn die Menschen nicht mehr damit beschäftigt waren, das Feuer zu bekämpfen, würden sie sich irgendwann damit beschäftigen, die Urheber des verheerenden Brandes zu finden.
Black dachte daran, dem Hai seine Befürchtungen mitzuteilen. Aber er ging nicht die Treppe hinauf zur >Krone<, wie er das oberste Stockwerk nannte, das äußerlich tatsächlich die Form eine Krone hatte.
Der Hai hatte diese Überlegung vermutlich selbst angestellt.
Außerdem verspürte Black nicht die geringste Neigung, dem unheimlichen Mann und seinem dunkelhäutigen Vollstrecker schon wieder gegenüberzustehen. Er wollte seine Finger gern behalten - mit sämtlichen Gliedern.
Also durchstreifte Black weiterhin den Vergnügungspalast am Portsmouth Square wie ein rastloser Wanderer, kontrollierte die Posten und wartete.
Er wartete darauf, daß die ersehnte Verstärkung eintraf.
Daß Louis Bremer endlich mit Jacob Adler und der Chinesin zurückkehrte.
Und - mit einigem Unbehagen - auf das Schreckliche, das geschehen würde, wenn herauskam, wer das Feuer in Chinatown gelegt hatte.
Er durchstreifte den rückwärtigen Teil des Gebäudes, als er Hufgetrappel und Stimmen hörte. Sofort rannte er nach draußen auf den großen Hinterhof.
Die hier aufgestellten Wachtposten umstanden drei Menschen, die gerade von den Pferden gestiegen waren: Louis Bremer, dieser neue Mann namens Cyrus Stanford und Susu Wang alias Wang Shu-hsien.
Die Erleichterung über Bremers Rückkehr verflog schnell, als Black feststellte, daß ihnen keine weiteren Reiter folgten.
»Wo sind deine restlichen Leute, Louis?« fragte Black. »Und warum hast du diesen Jacob Adler nicht mitgebracht?«
Bremer streifte mit einem kurzen Blick die verwundete Hand des massigen Mannes und antwortete: »Wir sind in eine Falle der Armee geraten. Stanford und ich konnten als einzige entkommen. Die Chinesin haben wir erwischt, aber um diesen Auswanderer konnten wir uns beim besten Willen nicht kümmern.«
»Aber das war dein verfluchter Auftrag!« bellte der ehemalige Hufschmied. »Der Hai will die Chinesin und Adler haben!«
Bremer zuckte nur mit den Schultern.
»Sind deine anderen Männer erschossen worden?« fragte Black weiter.
»Erschossen oder gefangen«, nickte der kleine Mann mit dem Nagetiergesicht.
»Gefangen?« rief Black. »Was ist, wenn sie reden?«
»Ja, was ist dann?« erwiderte Bremer.
»Dann kommt vielleicht sehr schnell heraus, wer die halbe Stadt niedergebrannt hat. Wenn die Armee ihre Finger im Spiel hat, könnte es passieren, daß das Golden Crown bald schon von Truppen umstellt ist!«
Bremer rieb über sein spitzes Kinn und murmelte: »Verflucht, ja, du hast recht, Henry. Wir sollten so schnell wie möglich von hier verschwinden!«
»Ganz meine Meinung«, nickte Black und warf einen skeptischen Blick hinauf zum kronenförmigen Dach des Vergnügungspalastes. »Allerdings weiß ich nicht, ob der Hai sie teilt.«
»Darauf warte ich lieber nicht«, sagte Bremer und griff nach den Zügeln seines Pferdes. »Ich verschwinde lieber, solange noch Zeit dazu ist.«
Er schwang sich in den Sattel.
»Das wirst du nicht tun!« blaffte Henry Black. »Ich bin nicht bereit, meinen Kopf noch einmal für deine Fehler hinzuhalten.«
Und schon gar nicht meine Hand! fügte er in Gedanken hinzu.
»Dann hau doch auch ab!« riet ihm Bremer und wollte sein Pferd herumreißen.
»Du bleibst hier!« fauchte Black, griff in die Zügel und hielt sie fest. »Das ist ein Befehl!«
Plötzlich hielt Bremer seine Pepperbox in der Rechten und richtete sie auf den korpulenten Geschäftsmann.
»Ich habe soeben beschlossen, keine Befehle mehr entgegenzunehmen, Henry. Weder von dir noch vom Hai.« Er stieß den sechsläufigen Revolver vor. »Geh zurück!«
Zögernd gehorchte Black.
Bremer schlug die Hacken in die Flanken des kräftigen Braunen und trieb das Tier über den Hof.
Black wollte ihn nicht entkommen lassen. Erst als seine Rechte vergeblich nach dem 36er Warner tastete, fiel ihm ein, daß die Waffe im Büro des Hais geblieben war.
Fluchend drehte er sich zu einem der Wachtposten um. Die Männer standen unschlüssig herum.
Louis Bremer war einer von ihnen. Deshalb versuchte keiner, den Flüchtenden aufzuhalten.
Als Black das erkannte, zog er einem der Männer den Revolver aus dem Hosenbund und legte rasch auf Bremer an.
Aber nicht zu rasch. Er zielte sorgfältig, weil er wußte, daß er keine zweite Chance haben würde.
Der dichte Regen hatte den Reiter schon halb verschluckt. Und Bremer würde das Tor, das vom Hinterhof hinaus auf die Straße führte, gleich erreichen.
Blacks Augen blickten starr auf die nur noch schemenhaft erkennbare Gestalt des fliehenden Unterführers, als er den Abzug durchzog.
Dann blendete ihn die Stichflamme. Die Detonation hallte in seinen Ohren wider. Pulverrauch biß in seine Augen und kitzelte seine Nase. Er mußte niesen.
Als er wieder zum Tor sah, lief das Pferd vom Hof.
Ohne seinen Reiter!
Der lag im Schlamm, von Blacks Standort aus nur eine undeutliche Erhebung auf dem Boden.
»Stanford, sieh nach ihm!« befahl der massige Mann.
Der Angesprochene verließ den trockenen Platz unter dem Vordach und trottete in den Regen hinaus. Vor dem Tor beugte er sich über Bremer.
Als er sich wieder aufrichtete, rief er: »Volltreffer, Mr. Black. Der ist hinüber.«
Black nickte befriedigt und brummte: »So geht es jedem, der sich meinen Befehlen widersetzt!«
Die Macht über Leben und Tod, die er verspürte, tat ihm gut. Vielleicht war es doch nicht so schlecht, für den Hai von Frisco zu arbeiten.
*
»Wer hat da draußen geschossen?« fragte der Hai kurz darauf, als Henry Black vor ihm stand.
Sieh mal an, dachte der Geschäftsführer des Golden Crown, verwundert und erleichtert zugleich, der verdammte Krüppel ist also doch nicht allwissend!
»Ich war es«, antwortete Black. »Ich habe Louis Bremer erschossen.«
Der Hai beugte sich vor, lag halb auf der Schreibtischplatte.
»Warum?«
»Weil Bremer wieder versagt hat. Er hat Susu Wang hergeschafft, aber nicht diesen Adler. Außerdem hat er fast alle seine Männer bei einem Gefecht mit der Armee verloren. Kann sein, daß die Blaujacken ein paar Gefangene gemacht haben und sie jetzt ordentlich ausquetschen.«
»Das ist wirklich unangenehm«, sagte der Hai und richtete seinen Blick auf den massigen Geschäftsmann. »Aber ich allein entscheide über Leben und Tod meiner Männer!«
»Ich hatte keine Wahl. Bremer wollte sich absetzen. Es war die einzige Möglichkeit, ihn zurückzuhalten. Außerdem kann er uns als Leiche noch viel nützen.«
»Wie meinen Sie das, Henry?«
»Wir können die Schuld an dem Feuer auf ihn schieben, falls die Sache auffliegt. Zumal er wirklich ohne Befehl gehandelt hat - jedenfalls in dieser Nacht. In seinem Zustand kann Bremer nichts Gegenteiliges behaupten.«
»Eine gute Idee«, lächelte der Hai nach kurzem Überlegen. »Wirklich, der Plan gefällt mir.« Sein Gesicht wurde wieder ernster. »Was ist mit Jacob Adler? Wo steckt er?«
»In dem Hotel, wo Bremer die Chinesin aufgegabelt hat. Das Santa Rosa. Stanford hat berichtet, Adler sei überraschend dort aufgekreuzt, zusammen mit den Blaujacken. Vermutlich hat Adler die Armee auf Bremers Spur gebracht.«
»Adler!« stieß der Hai hervor, und sein gutgeschnittenes Gesicht wirkte auf einmal verzerrt, erinnerte an die Fratze eines Teufels. »Immer wieder kommt er mir in die Quere.« Er ballte eine Hand zur Faust und schlug heftig auf den Tisch. »Aber ich werde ihn kriegen, bei Gott, das werde ich!«