Li Fu nickte.
»Ich weiß.« Die schmalen Augen blickten den Auswanderer vorwurfsvoll an. »Sie war doch in deiner Begleitung. Warum hast du die Königin von Chinatown nicht beschützt?«
»Ich habe es versucht.« Jacob schilderte in knappen Worten, was sich ereignet hatte, und schloß: »Mein Freund Eli ist tot. Draußen warten die Soldaten, bereit zum Sturm auf das Golden Crown. Aber wenn sie erst einmal angreifen, fürchte ich um das Leben von Shu-hsien. Und um das Leben von Irene und Jamie.«
Der Druck an seiner Kehle ließ ebenso nach wie der, den der auf ihm hockende Chinese durch sein Gewicht ausübte. Mit katzenartiger Gewandtheit kam Li Fu auf die Füße und sagte: »Steh auf und folge mir!«
Mit unbewegter Miene betrachtete der Chinese Jacobs schmerzverzerrtes Gesicht, als der Deutsche den rechten Fuß belastete. Li Fu bot ihm keine Hilfe an.
Jacob folgte dem Chinesen in eine dunkle Hütte. Durch die kleinen Fenster fiel nur ein Hauch von Licht herein.
Trotzdem wußte Jacob sofort, daß er und Li Fu nicht die einzigen Menschen in der Baracke waren. Seine durch viele Abenteuer und Gefahren geschärften Sinne spürten die Anwesenheit der anderen.
Dann umgaben Schatten die beiden. Stimmen zischelte durch die Dunkelheit. Der Deutsche verstand kein Wort. Die Männer sprachen Chinesisch.
Als sich Jacobs Augen an das gewöhnt hatten, was man kaum als Licht bezeichnen konnte, erkannte er immerhin, daß es außer Li Fu noch vier Chinesen waren, die ihn umringten. Alle machten düstere Gesichter. Und alle waren schwer bewaffnet, teilweise mit exotisch wirkenden Waffen. Einer trug sogar eine Armbrust.
Li Fu wandte sich wieder dem Auswanderer zu und sagte: »Du hast Glück, wir glauben dir. Wir verfolgen denselben Plan wie du. Wir waren in Chinatown, um dort zu helfen. Aber es gab nicht mehr viel zu tun. Dann hörten wir, was Shu-hsien widerfahren ist. Also kehrten wir zurück, um ihr beizustehen.« Seine schlanke Gestalt straffte sich. »Das werden wir jetzt tun. Du bleibst hier und wartest!«
»O nein, das werde ich ganz bestimmt nicht tun!« Jacob schüttelte energisch den Kopf. »Ich bin hergekommen, um die Gefangenen des Hais zu befreien. Nicht, um in einer finsteren Hütte zu sitzen.«
»Dein Fuß behindert dich. Du könntest uns behindern oder unfreiwillig verraten.«
»Sobald die Gefahr besteht, bleibe ich zurück«, versicherte Jacob. »Schließlich sorge ich mich selbst um das Leben der Gefangenen.«
Er nahm sich fest vor, die Sache durchzustehen. Zwar schien Li Fu eine nur kleine, aber schlagkräftige Truppe um sich geschart zu haben. Aber selbst wenn sie es schafften, ins Hauptquartier des Hais einzudringen, war das noch nicht die Rettung für Irene und Jamie. Den Chinesen ging es hauptsächlich um Shu-hsien, vielleicht sogar ausschließlich.
Nein, Jacob mußte dabeisein, um die Rettung der anderen Gefangenen zu gewährleisten!
Li Fu redete wieder auf chinesisch mit seinen Gefährten und meinte dann zu dem Deutschen: »Gut, du kannst mitkommen. Aber störe uns nicht!«
»Das werde ich nicht. Wie ist euer Plan?«
»Ich kenne mich gut im Golden Crown aus«, antwortete Li Fu. »Der Hai sitzt oben in der Krone, wie das oberste Stockwerk genannt wird. Ein anderer Platz kommt nicht in Betracht.«
»Und die Gefangenen?«
»Vermutlich hält der Hai sie ebenfalls dort versteckt. Sonst würden Angestellte und Gäste etwas bemerkt haben. Nur in die Krone kommt kaum jemand. Bloß Henry Black, der Schwarze namens Buster und hin und wieder ein Bediensteter. Aber nur ausgewählte Leute, die kaum weniger stumm sind als dieser Buster.«
»Aber wie kommen wir ins Haus?« fragte Jacob.
»Auf dem Hof sind mehrere Wachen verteilt. Der Regen macht, daß sie einander nicht sehen können. Wir müssen nur die beiden Männer ausschalten, die am Hintereingang Wache halten.«
»Aber so, daß es niemand hört!«
»So haben wir es vor«, sagte Li Fu. »Laß uns das nur machen!«
Er zog die Tür auf, und die sechs Männer huschten in den Regen hinaus.
Die Chinesen schienen sich ihrer Sache sehr sicher zu sein. Doch in Jacob nagten Zweifel, ob sie es schaffen konnten, den mächtigen Hai von Frisco zu besiegen.
*
Rings um das Golden Crown, in den Seitengassen am Portsmouth Square, hockten die Soldaten eng zusammengekauert.
Aber auch so wurden sie vom Regen durchweicht. Feine Rinnsale suchten sich ihre Wege unter die Kleidung.
Nichts als Regen, wohin die Männer auch blickten. Das war zwar allemal besser als das Feuer, das San Francisco noch vor kurzer Zeit bedroht hatte. Aber allmählich ging der Regen den Soldaten auf die Nerven. Die Kälte, die Nässe - und das Warten.
Ein grauhaariger Sergeant mit dem faltigen, von mehreren Narben verunstalteten Gesicht eines Veteranen lief geduckt zu Lieutenant Wannaker.
»Sir, wie lange sollen wir noch warten?« Er zeigte hinaus auf den Portsmouth Square. »Es wird allmählich heller. Wenn wir zu lange zögern, geben unsere Männer beim Angriff hübsche Zielscheiben ab.«
Wannaker konnte in Gedanken nicht umhin, dem Mann recht zu geben. Das Schwarz der Nacht verwandelte sich immer mehr zum Blau des anbrechenden Morgens.
Mit klammen Fingern zog er unter seinem Uniformrock die vergoldete Uhr hervor, die ihm sein Vater geschenkt hatte, als er das Offizierspatent erhielt. Die Finger waren so steif, daß ihm das Aufklappen des Deckels Mühe bereitete.
Dieser wagemutige Deutsche war schon seit fünfzehn Minuten unterwegs. Aber nichts hatte sich im Golden Crown getan. Jedenfalls nichts, was die Soldaten hier draußen bemerkt hatten. Der Lieutenant befand sich im unklaren darüber, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war.
Er wollte keinen Fehler begehen. Es ging um Menschenleben. Um das Leben seiner Soldaten. Aber auch um das Leben der Menschen, die in dem großen runden Gebäude da drüben vermutlich gefangengehalten wurden.
Und um das Leben dieses Deutschen, Jacob Adler.
Ein dicker Regentropfen platschte auf das Deckglas über dem Zifferblatt. Die schwarzen römischen Ziffern und die goldenen Zeiger verschwammen.
Wannaker wischte mit dem Ärmel das Glas ab, so gut es ging, klappte den Deckel wieder zu und sagte: »Wir warten noch fünfzehn Minuten. Wenn wir dann immer noch nichts gehört haben, greifen wir trotzdem an. Sagen Sie das den Männern, Sergeant!«
»Yes, Sir.«
Der Sergeant tippte mit der Hand an das aufgeweichte Käppi und huschte wieder nach hinten.
Wannaker steckte die Uhr zurück unter den schützenden Stoff und starrte hinaus in den Regen. Unablässig suchten seine Augen die Fassade des Vergnügungspalastes ab, die hinter den dicken Wasserschnüren nur ein verschwommenes Bild abgab.
Einige Fenster waren erleuchtet. Er fragte sich, was sich hinter ihnen abspielte.
*
Wie zuvor Jacob hielt sich jetzt die ganze Gruppe im Schatten der Gebäude und des großen Zauns. Geduckt schlichen sie auf das runde Haupthaus zu.
Dabei bemühten sich der Deutsche und die fünf Chinesen, keinen Lärm zu machen. Sie konnten nicht verhindern, daß der aufgeweichte Boden sich bei fast jedem Schritt mit leisem Schmatzen an ihren Sohlen festsog. Sie konnten nur hoffen, daß der prasselnde Regen diese Geräusche übertönte.
Der verstauchte Fuß behinderte Jacob so stark, daß er einige Yards hinter den Chinesen zurückblieb. Sie warteten nicht auf ihn. Damit hatte er auch nicht gerechnet.
Aber plötzlich hielt die Gruppe an, und Jacob schloß zu ihr auf.
»Was ist?« flüsterte er leise.
»Wir sind nahe genug an dem Vorbau«, erklärte Li Fu und zeigte auf einen Chinesen, der allein nach vorn schlich; es war der Mann mit der Armbrust. »Wei Chou wird die beiden Wächter ausschalten.«
Jacob hatte vorhin einen ausgiebigen Blick auf die Armbrust werfen können. Sie war mit drei Bolzen gleichzeitig geladen. Er hielt es für eine ziemlich gewagte Konstruktion.