Der stiernackige Mann holte tief Luft und stieß einen langen Seufzer aus. Entgegen seiner Hoffnung spürte er danach nur wenig Erleichterung.
Schuld an seiner bedrückten Stimmung war nicht nur Bremer, sondern vor allem der Mann, der da oben thronte!
Black legte den Kopf weit in den Nacken, so daß sich hinten dicke Fettwülste abzeichnete. Dort oben hockte der Mann, der alle Fäden von San Franciscos Unterwelt in die Hand zu bekommen hoffte.
Wie die Spinne im Netz.
Die Spinne?
Nein, der Hai!
Ein leichtes Zittern überfiel den sonst so abgebrühten Henry Black bei dem Gedanken, dem heimlichen Herrscher über San Francisco einen weiteren Fehlschlag melden zu müssen.
Black kannte seinen Herrn und Meister inzwischen gut genug, um dessen Reaktion einschätzen zu können. Auch wenn Bremer die Schuld am Mißerfolg traf, der Hai würde es Black spüren lassen. Black war die rechte Hand des Hais, sein ausführendes Organ - und sein Blitzableiter.
Der ehemalige Besitzer und jetzige Geschäftsführer des Golden Crown ging zu seinem Schreibtisch, zog eine tiefe Lade heraus und entnahm ihr eine bauchige Brandy-Flasche. Er füllte das fleckige Glas auf dem Schreibtisch bis über die Hälfte. Er brauchte die wärmende, beruhigende Flüssigkeit, um das Zittern aus seinem Leib zu vertreiben. Er machte sich nicht einmal die Mühe, die Flasche wieder zu verkorken.
Hastig setzte er das Glas an die Lippen, da stürzte jemand nach nur kurzem Anklopfen ins Zimmer.
Für einen Augenblick hatte Black, beeinflußt durch seine um den Hai kreisenden Gedanken, geglaubt, der Hai hätte Buster geschickt, um ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Der kahlköpfige Neger, der Leibwächter des Hais, hatte Black erst am vergangenen Tag verprügelt, als dieser über Susu Wang, den Schützling des Hais, hergefallen war.
Als Black seinen Irrtum erleichtert erkannte, hatte er vor Schreck schon den halben Inhalt seines Glases über die Weste vergossen. Er wußte nicht, worum er mehr trauern sollte, um das teure Kleidungsstück oder um den teuren Brandy.
»Bremer, du verdammter Hund, kannst du nicht ordentlich anklopfen?«
Der Zorn über die Art, wie der kleine Mann mit dem Rattengesicht in sein Büro platzte, und über das lächerliche Bild, das Black dem anderen mit dem verschütteten Brandy bot, ließ den großen wuchtigen Mann die Erleichterung darüber vergessen, daß Bremer endlich zurück war.
Bremer schob die zu große Melone in den Nacken und wischte mit dem Jackenärmel über seine Stirn.
Seine Bewegung war langsam, fast fahrig. Sie drückte Erschöpfung aus.
Überhaupt machte der kleine Mann einen reichlich mitgenommenen Eindruck.
Schmutz und Ruß befleckten sein Gesicht, seine Hände und seinen ohnehin nicht sonderlich beeindruckenden, weil schon reichlich abgetragenen und speckigen Anzug.
Aber da waren noch andere Flecken, kleine dunkle Spritzer. Es sah aus wie getrocknetes Blut.
»Verflucht, Henry, wenn du mitgemacht hättest, was ich heute erlebt habe, würdest du auch nicht auf gesellschaftliche Formalitäten achten.« Er blickte begehrlich auf die noch offene Brandy-Flasche. »Ein Doppelter von deiner Hausmarke würde mir jetzt auch guttun.«
Black war noch immer sauer auf den anderen und beschloß, den Wink mit dem Zaunpfahl zu ignorieren. Er stellte das klebrige Glas an den Rand des Schreibtisches, fischte mit spitzen Fingern ein weißes Taschentusch hervor und rieb erst seine mit Alkohol benetzten Hände und dann seine Weste ab.
»Dein Durst kann warten«, knurrte Black. »Erzähl mir lieber, was los ist. Vor allen Dingen sag mir, wo Adler und der chinesische Engel stecken!«
»Irgendwo an der Grenze zu Chinatown, nehme ich an.«
Bremer quetschte die Antwort widerwillig hervor. Sein Zögern drückte aus, daß er lieber etwas anderes oder überhaupt nichts gesagt hätte.
Aus Angst vor dem Hai.
»Irgendwo?« wiederholte Black bedächtig, und jede Silbe drückte wachsenden Unglauben aus. »An der Grenze zu Chinatown? Jedenfalls nimmst du das an?«
Wütend schleuderte der ehemalige Hufschmied das zerknüllte Tuch zu Boden, trat hinter dem Schreibtisch vor und baute sich vor dem anderen auf.
Keinem der beiden war zum Lachen zumute, gleichwohl gaben sie ein komisches Bild ab. Der große massige, fast aus seinem Anzug quillende Henry Black, der sich in seiner Wut noch zusätzlich aufplusterte, und der kleine Louis Bremer in dem zu großen Anzug wirkten wie Vater und Sohn. Black war der Vater, der ein donnerndes Strafgericht über seinen Sohn niedergehen ließ.
»Wir haben unser Bestes getan, sie zu erwischen«, verteidigte sich Bremer und berichtete von dem Überfall auf Sun Chengs Wäscherei, von der Inbrandsetzung Chinatowns und von den Ereignissen in Reverend Humes Waisenhaus.
Als Bremer mit seinem Bericht zu Ende war, herrschte für zwei, drei Minuten Schweigen.
Wie sehr Black aufgewühlt war, zeigten nur seine in ihrer Größe an Schaufelblätter erinnernde Hände, die sich beständig schlossen und öffneten. Als benötige der Geschäftsführer des Golden Crown diese krampfartige Bewegung, um seine Erregung abzuleiten.
Wie mühsam es für ihn war, sich unter Kontrolle zu halten, verriet auch seine vibrierende Stimme, als er schließlich sagte: »Louis, dieser verdammte Auswanderer ist dir innerhalb weniger Stunden dreimal durch die Lappen gegangen! Erst hier, als er, schon gefesselt, im Schuppen lag. Dann in Chinatown, in der Wäscherei. Und schließlich in diesem Waisenhaus, wo er schon wieder dein Gefangener war. Bist du dir klar, was das heißt?«
»Ich... weiß nicht...«, sagte der kleine Mann zögernd.
»Der Hai wird dich in der Luft zerreißen!« fuhr Black fort. »Und mich auch, weil er mich für dein Versagen verantwortlich macht!«
»Ich kann doch nichts dafür, daß.«
Black ließ den anderen nichts ausreden.
»Natürlich kannst du etwas dafür, zum Henker! Du hättest die Gefangenen sorgfältiger bewachen lassen müssen. Und in der Wäscherei bist du ziemlich plump vorgegangen. War doch klar, daß Adler und die Chinesin gewarnt sind, wenn ihr draußen eine große Schießerei veranstaltet.«
»Sollten wir uns von diesen verfluchten Gelbhäuten mit ihren Stöcken, Ketten und Messern fertigmachen lassen?«
»Das hat keiner verlangt, Louis. Ihr hättet einfach nur geschickter vorgehen und keine Feldschlacht veranstalten sollen. Was ich aber überhaupt nicht verstehe - weshalb bist du ohne Adler und Susu Wang zurückgekommen? Du weißt doch, daß der Hai die beiden haben will!«
»Wir konnten nichts mehr machen. Das Feuer hat sich unerwartet rasch ausgebreitet. Überall waren Menschen und die Feuerwehr. Wenn wir die beiden zu schnappen versucht hätten, wäre die Gefahr zu groß gewesen.«
»Die Gefahr?« Black lachte rauh und unecht. »Dadurch, daß du Adler und die chinesische Hure hast entwischen lassen, hast du uns erst in Gefahr gebracht. Er ist die größte Gefahr!«
Er blickte an die Decke.
Bremer verstand sofort, wen der andere meinte.
Der kleine Mann zwang sich zu einem Grinsen, das optimistisch wirken sollte, aber verunglückt ausfiel.
»Du wirst ihm die Sache schon erklären, Henry. Du kommst doch so gut mit ihm aus.«
Henry Blacks Antwort bestand im Angriff. Der schwere, massige Mann bewegte sich mit einer Gewandtheit, die angesichts seiner Leibesfülle für Bremer völlig überraschend kam. Der Geschäftsführer holte mit der Rechten schwungvoll aus und schlug den Handrücken in das Rattengesicht.
Die Wucht des unerwarteten Schlages ließ Bremer quer durchs Zimmer taumeln. Er verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Die Melone war längst von seinem Kopf gerutscht.
Als der kleine Mann auf dem Holzboden lag, fühlte sich seine rechte Wange, wo ihn Blacks Hand getroffen hatte, erst vollkommen taub an. Die Taubheit verschwand schnell und machte einem schmerzhaften Brennen Platz.