Unaufhaltsam wälzte sich die Feuerfront dem Stadtzentrum entgegen, dem Portsmouth Square und dem Golden Crown...
*
Feuer.
Überall um sie herum waren Flammen, Rauch und Hitze.
Die Männer, in den Uniformen der Armee und der Feuerwehr und auch zivil gekleidete, kämpften auf verlorenem Posten.
Die Angehörigen der freiwilligen Löschzüge Social Three und Monumental Six wurden nicht müde, ihre Pumpen zu bedienen und die dicken Wasserstrahlen zu beiden Seiten des großen Armeemagazins in die näherrückenden Flammenwände zu schicken, die das große Gebäude einzuschließen drohten.
Währenddessen liefen Soldaten und zivile Helfer geschäftig hin und her, um Munitions- und Sprengstoffkisten auf eilig herbeigeschaffte Wagen zu verladen.
Das Armeemagazin sollte geräumt werden, bevor es vom Feuer erreicht wurde. Denn dann war klar, was folgte: eine Explosion, die für diesen Stadtteil kaum weniger schlimm sein würde als eines der heimtückischen Erdbeben, die San Francisco von Zeit zu Zeit heimsuchten und nach dem Feuer die gefürchtetste Gefahr am Golden Gate waren.
Jacob Adler und Elihu Brown gehörten zu den freiwilligen Helfern. Jeder von ihnen schleppte eine schwere Munitionskiste nach der anderen aus einem großen, fast würfelförmigen Schuppen, um sie auf einem offenen Kastenwagen abzuladen.
Nachdem die Kinder aus Reverend Humes Waisenhaus gerettet waren, hatten die goldbehelmten Männer von Social Three den Kampf gegen die Flammen zeitweilig aufgegeben und die Bolton Street für verlorenes Terrain erklärt. Aber sie traten nur den geordneten Rückzug an, nicht die kopflose Flucht.
Sie trafen auf die Kollegen der Feuerwehrkompanie Monumental Six, die sich selbst stolz >Big Six< nannten, weil sie den Rekord in der Länge des handgepumpten Wasserstrahls hielten. Die Männer von Monumental Six benötigten bei ihrem Kampf um das Armeemagazin Verstärkung. Da das Feuer von zwei Seiten kam, war es unmöglich mit einer Spritze zurückzuhalten.
Jacob und Elihu schlossen sich den Helfern an, während Shu-hsien Reverend Hume, Mrs. Goldridge und die Waisenkinder begleitete. Sie suchten eine vorübergehende Bleibe, die den Kindern Schutz vor dem Feuer bot. Das Hotel eines gewissen Felipe Echado, mit dem der Reverend befreundet war, sollte diesen Schutz bieten.
Mittlerweile war klar, daß der Kampf ums Armeemagazin nicht gewonnen werden konnte. Es ging nur noch darum, das Übergreifen des Feuers so lange zu verhindern, bis die Lagerräume geleert waren. Aber auch das schien mehr ein Wunschdenken als eine Hoffnung mit begründeter Aussicht auf Erfolg zu sein.
Doch die Männer ließen sich nicht unterkriegen. Nur mit dieser Haltung trotziger Unbeirrbarkeit konnte man in einer Stadt wie San Francisco bestehen.
Diese Haltung war mutig, todesverachtend. Und gerade deshalb konnte sie den Tod bringen.
So ungefähr waren die Gedanken, die Jacob Adlers Gehirn in der Zeit weniger Sekunden durchrasten. Es waren die Sekunden, in denen er einem Schauspiel zusah, wie es sich in dieser Nacht hundertfach ereignete. Und doch war es jedesmal einmalig - wenn auch von schrecklicher Einmaligkeit. Es brachte Zerstörung und häufig auch den Tod.
Elihu Brown war mit einigen Männern in dem würfelähnlichen Lagerhaus verschwunden, als das hohe, schmale Nachbargebäude einstürzte.
Die Flammen hatten zu heftig an stützenden Balken und Wänden genagt, trotz der Bemühungen der goldbehelmten Feuerwehrleute von Social Three und ihrer versilberten Spritze.
Das Haus knickte ein wie ein Mensch, dem man heftig gegen das Schienbein getreten hatte. Ausgerechnet zu der Seite, wo das Lagerhaus stand.
Trümmer, die meisten von ihnen brennend, regneten auf das würfelförmige Gebäude, setzten es ebenfalls in Brand, erdrückten es teilweise und brachten dadurch den Eingang des Lagerhauses zum Einsturz.
Elihu und die anderen waren gefangen. In einer Falle, die in wenigen Minuten verbrennen würde.
Eilig und achtlos stellte Jacob die Munitionskiste auf den Boden, die er eigentlich zu dem Kastenwagen tragen wollte. Sein erster Impuls war, zu dem Lagerhaus zu rennen und den Eingeschlossenen zu helfen.
Doch er sah ein, daß er mit bloßen Händen nichts gegen das Feuer tun konnte.
Also lief er zu dem Mann mit dem Walroßschnauzbart, dem Captain von Social Three.
Keuchend sagte der junge Deutsche, mit ausgestrecktem Arm zum Ort des Geschehens zeigend: »Das Lagerhaus hier vorn ist im Eingangsbereich eingestürzt. Es hat Feuer gefangen!«
»Ich weiß«, nickte der Captain, und sein rußgeschwärztes Gesicht sah abgespannt aus. »Ich werde sofort den Befehl zum abrücken geben. Wenn die Munition erst explodiert, fliegt das ganze Magazin in die Luft. Und wir mit ihm.«
Er hob das vergoldete Megaphon an die Lippen.
»Nein!« fauchte Jacob und riß die Flüstertüte gewaltsam von seinem Mund weg. »Sie müssen den Wasserstrahl umleiten, Captain. Auf das brennende Lagerhaus!«
»Das ist doch sinnlos«, schnappte der Uniformierte, ärgerlich über die rüde Art, in der Jacob in seine Kompetenzen eingriff. »In wenigen Minuten brennt hier sowieso alles, und dann gnade uns Gott! Ich muß auch an meine Männer denken. Viele haben Frauen und Kinder.«
»Und was ist mit den Männern, die da eingeschlossen sind? Zählen die nicht?«
»Welche Männer?«
»Mein Freund Eli und ein paar andere!«
»Das wußte ich nicht«, sagte der Captain ernst und hob das Megaphon erneut an. »Natürlich lasse ich den Strahl sofort umleiten, Adler. Trommeln Sie einen Rettungstrupp zusammen, aber schnell. Bald bricht das Lagerhaus ganz zusammen!«
*
Elf Reiter trieben ihre Tiere an und preschten durch die Nacht, nicht unbedingt begeistert.
Sie waren hartgesottene Kerle, aber die letzten Stunden hatten ihnen einiges abverlangt. Jeder von ihnen war der Meinung, sich eine Ruhepause verdient zu haben. Außerdem war es keine verlockende Aussicht, mitten auf die riesige Feuersbrunst zuzureiten.
Alle anderen Menschen flohen vor dem Brand, aber die Reiter hielten unbeirrbar die Gegenrichtung bei. Wie gegen den Strom schwimmende Fische brachen sie sich, manchmal mit roher Gewalt, einen Weg durch die nicht abnehmende Flüchtlingsmenge.
Louis Bremer hatte den zehn Männern, die mit ihm ritten, ordentlich zureden müssen, um sie dazu zu bewegen, sich noch einmal auf die Suche nach diesem verfluchten Jacob Adler und seiner chinesischen Hure zu begeben. Selbst das Drohen mit dem Zorn des Hais hatte erst nicht geholfen. Also hatte Bremer jedem Mann zehn Golddollar für das Auffinden der Gesuchten versprochen.
Er hoffte sehr, daß Henry Black die Summe rausrückte, sollten sie erfolgreich sein. Bremer verspürte nicht die geringste Lust, die Prämie aus eigener Tasche zu bezahlen. Schließlich war Black ihm nach der schmerzhaften Behandlung vorhin noch etwas schuldig.
Auf drei Männer, die dicht hinter dem Anführer ritten, schien noch am meisten Verlaß zu sein. Es waren ausgerechnet die drei Seeleute, die erst seit kurzem zu seiner Gang gehörten: Cyrus Stanton, Frenchy und Petrov. Ihre Abneigung gegen Jacob Adler hatte sich zu einem regelrechten Haß auf den Deutschen gesteigert. Die Aussicht, sich an ihm rächen zu können, beflügelte sie.
Bremer konnte nicht genau sagen, weshalb die drei so scharf darauf waren, den Auswanderer in die Hände zu bekommen. Er wußte nicht, was sich auf dem Walfänger LUCIFER ereignet hatte. Er vermutete nur, daß es mit dem Schiff und seinem Untergang zusammenhing.
Ebenso wenig wußte Bremer, weshalb der Hai von Frisco so versessen auf diesen Adler war. Als Bremer den Auswanderer als unfreiwilligen Seemann an die LUCIFER verkaufte, hatte er sich nichts Schlimmes dabei gedacht. Der Hai wollte Adler aus dem Weg geräumt haben, na schön!
Aber der Verkauf des Deutschen erwies sich als krasser Fehler. Wie konnte Bremer ahnen, daß der Hai Adler unbedingt in seiner Gewalt haben wollte, lebend? Ähnliche Aufträge waren stets darauf hinausgelaufen, jemanden in der Bucht zu versenken, ihm ein Messer zwischen die Rippen zu stoßen oder eine Kugel in den Kopf zu jagen.