Bremer hätte einen mittelgroßen Nugget dafür hergegeben, um herauszufinden, was so besonders an dem Auswanderer Jacob Adler war. Aber vielleicht konnte er ihn das bald selbst fragen. Hoffentlich!
Der Reitertrupp hatte die Bolton Street fast erreicht. Viel konnte von ihr allerdings nicht übrig sein.
Die Feuerfront, die hoch in den Himmel reichte und sich zu beiden Seiten in scheinbare Unendlichkeit erstreckte, sprach fast deutlicher, als Worte es vermocht hätten.
Obwohl eine noch nicht von den Flammen befallene Häuserfront die Reiter vom Feuer trennte, spürten sie die atemabschnürende Hitze. Schweiß glänzte auf den groben Gesichtern und ließ die Kleidung an den Körpern kleben.
Hier gab es kaum noch Flüchtlinge. Die Einwohner hatten die Aussichtslosigkeit ihres Kampfes erkannt und diesen Bezirk bereits geräumt.
Als die Reiter um eine Ecke galoppierten, riß Bremer seinen Fuchs zurück. Hätte er es nicht getan, hätte sich der schlanke Hengst wohl von selbst geweigert weiterzulaufen.
Der Abschnitt der Bolton Street, wo sich das Waisenhaus befunden hatte, war nicht mehr zu sehen.
Wie vom Erdboden verschluckt, sagte ein Sprichwort, das gerade im erdbebengeschüttelten San Francisco seine Berechtigung bewies.
In diesem speziellen Fall aber war es von den züngelnden Flammen verschluckt worden, die ihre gierigen Feuerfinger auch schon nach den Häusern ausstreckten, die Bremer und seine Männer gerade umritten hatten.
Der vollbärtige Charley Wagner bezwang die Feuerangst seines klobigen Braunen und lenkte das Tier an Bremers Seite.
»Da ist nichts mehr zu machen, Louis. Von dem Waisenhaus gibt's nur noch ein Häufchen Asche, wenn überhaupt. Wir sollten so schnell wie möglich verschwinden, bevor es zu spät ist.«
Bei den letzten Worten warf er einen skeptischen Blick in die Runde. Der Blick galt dem Feuer, das sich rasend schnell ausbreitete.
Schon hatte es den eben noch unangetasteten Häuserblock erfaßt und fraß sich knisternd und knackend durch das Holz, aus dem die meisten Gebäude erbaut waren. Aber auch die Steinhäuser boten ihnen keinen Widerstand. Balken und Verkleidungen aus Holz waren der gefräßigen Glut willkommene Nahrung.
Charley Wagners Befürchtung wurden von den anderen Männern geteilt. Wenn sie nicht schnell machten, daß sie wegkamen, würde das Feuer sie einschließen.
Zu ihrer Verwunderung reagierte Bremer nicht auf die Bemerkung des Vollbärtigen. Unbeweglich wie ein Reiterdenkmal saß er kerzengerade auf dem Rücken seines Fuchses und starrte mit verklärtem Blick ins Feuer. Als könne er die dichte Wand aus Flammen und Rauch durchdringen. Als gäbe es dort etwas zu entdecken.
In Wahrheit aber war Bremer von dem ihn faszinierenden Gedanken besessen, daß er der Urheber dieses alles vernichtenden Infernos war.
Vor vielen Jahren, als er noch in Bremen lebte und der unbedeutende Schustergeselle Ludwig Großmann war, der unter dem Spott und der Mißgunst seiner Mitmenschen litt, hatte er sich geschworen, daß irgendwann er derjenige sein würde, der die anderen verspottete. Mehr noch, den sie fürchten würden. Mit der eingeschlagenen Laufbahn des Verbrechers und Mörders hatte er dieses Ziel konsequent verfolgt.
Aber das Feuer war noch viel mehr. Plötzlich störte es ihn gar nicht mehr, daß es längst über Chinatown hinausgewachsen war, daß es durch die Brandstiftung Zerstörungen in einem solch gigantischen Ausmaß hervorrief, wie er nie zu träumen gewagt hätte.
Gerade die ungehinderte Ausbreitung der Zerstörung war für seinen verqueren Geist die Bestätigung seiner Macht über die anderen Menschen. Die gesamte Bevölkerung von San Francisco, siebzig- oder achtzigtausend Menschen, zitterte vor seinem Werk.
Vor ihm, dem Schustergesellen Ludwig Großmann alias Louis Bremer!
Als Kind hatte er in der Schule die Geschichte des römischen Caesars Nero gehört, der angeblich Rom anzündete, um die Stadt brennen zu sehen und darauf eine Ode zu dichten. Bremer konnte Nero nachfühlen, wie er sich gefühlt hatte. Oder andersherum: Nero hatte sich damals sicher nicht mächtiger gefühlt als Louis Bremer in diesen Augenblicken.
Eine Hand, die sich schwer auf seine Schulter legte und ihn kräftig durchschüttelte, riß ihn aus seinen abartigen Schwelgereien.
»Louis, verdammt, wir müssen hier weg!« schrie ihm Wagner ins Ohr und kam doch kaum gegen die Lautstärke des prasselnden Feuers an. »Was hast du bloß?«
»Nichts!« blaffte Bremer den anderen an.
Natürlich hatte Wagner recht: Ein längeres Verweilen würde den Tod bedeuten. Die Pferde waren schon so unruhig, daß sie unablässig schnaubten, wieherten und hin und her tänzelten.
Trotzdem verspürte Bremer Unwillen darüber, daß Wagner ihn aus seinem Caesarentraum aufgeschreckt hatte.
Der kleine Mann mit der großen Melone riß den Fuchs herum, gab seinen Männern ein Handzeichen und brüllte: »Zurück!«
Das ließen sie sich nicht zweimal sagen und sprengten in wilder Jagd davon, fort von dem Feuer, das allen Männern außer Bremer nichts anderes verhieß als einen häßlichen Tod.
Zwei Querstraßen weiter stießen sie auf eine kleine Gruppe spanisch sprechender Menschen, die ihre Habe auf einen von zwei Maultieren gezogenen Planwagen und auf einen grobgezimmerten Ochsenkarren verluden. Vermutlich waren sie die letzten, die diesen Straßenzug räumten.
Bremer ließ seine Gruppe anhalten und ritt auf die aufgeregten Menschen zu.
Es waren unverkennbar Mexikaner oder zumindest Kalifornier spanischer Abstammung. Ihre Sprache, ihre dunkle Haut und ihre bunte Kleidung mit den großen Kopftüchern, den breiten Schärpen und den hochkronigen Hüten verrieten das.
Bremer tippte grüßend an seine Melone, setzte ein möglichst freundliches Lächeln auf und fragte: »Amigos, könnt ihr uns eine Auskunft geben?«
Eine rundliche ältere Frau, die gerade ein goldumrahmtes Gemälde in den Planwagen geschoben hatte, blieb stehen. Dunkle Augen in einem aufgedunsenen Gesicht musterten den Reiter skeptisch.
»Was wollen Sie denn wissen, Senor? Wir haben es sehr eilig!«
Sie sprach englisch, aber mit unverkennbar spanischem Akzent.
»Wir suchen das Waisenhaus, Senorita.«
Die Matrone lächelte ein wenig verschämt.
»Ich bin schon lange keine Senorita mehr, sondern eine Senora.«
»Verzeihen Sie, das konnte ich nicht wissen«, versuchte Bremer sich bei ihr einzuschmeicheln.
»Das Waisenhaus ist abgebrannt«, teilte die Frau mit.
»Das haben wir gesehen. Ich bin ein Freund von Reverend Hume und wollte ihm mit meinen Gefährten helfen, die Kinder in Sicherheit zu bringen.«
»Gott segne Sie für Ihr gutes Herz, Senor. In diesen schrecklichen Stunden denken die meisten Menschen leider nur an sich selbst. Aber die Kinder hatten Glück. Die Feuerwehr kam rechtzeitig, und alle wurden gerettet, bevor das Feuer sie im Schlaf überraschen konnte.«
»Wissen Sie, wohin sich der Reverend mit seinen Kindern gewandt hat, Senora? Vielleicht können meine Kameraden und ich doch noch etwas für ihn tun.«
»Ihr Ziel kenne ich leider nicht. Aber sie sind vor dem Feuer die Tampico Avenue hinaufgezogen. Das ist das letzte, was ich von ihnen gesehen habe.«
»Die Straße, die zum Armeemagazin führt«, murmelte Bremer, mehr zu sich selbst.
»Si, Senor«, bestätigte die olivenhäutige Frau.
Bremer bedankte sich mit einer letzten Höflichkeitsaufwallung bei ihr und trieb den Fuchs an.
Seine Männer folgten ihm.
Die Jagdgesellschaft hatte die Witterung aufgenommen.
*
Jacob trug eine langstielige Axt in beiden Händen, als er an der Spitze des Rettungstrupps auf das würfelförmige Lagerhaus zulief. Jetzt, wo es teilweise zusammengestürzt war, hatte es allerdings nur noch entfernte Ähnlichkeit mit einem Würfel.