Es ist nur eine Einbildung, nicht der Hai! redete er sich ein. Ich mache mir so viele Gedanken um ihn, daß ich schon an Wahnvorstellungen leide. Außerdem verläßt der Hai niemals sein Hauptquartier da oben!
Aber das alarmierende Kribbeln in seinem Nacken blieb. Er spürte einen kalten Luftzug am Hinterkopf, als habe jemand die Bürotür geöffnet.
Black gab sich einen Ruch und wirbelte herum.
Er hatte sich nicht getäuscht. Zwar stand nicht der Hai von Frisco in der Tür, aber bei dem Mann, den er vor sich sah, war das bedeutungslos.
Es war der Vollstrecker des Hais.
»Buster!« stieß der Geschäftsmann überrascht aus.
Der knochige, kahlköpfige Neger in dem unpassend wirkenden Anzug verzog keine Miene. Er hob nur die Rechte und zeigte nach oben. Was das bedeutete, war klar: Der Hai wollte Black sehen.
Unklar war ihm allerdings der Grund, wenn ihn auch eine bestimmte Ahnung beschlich. Hatte Busters Erscheinen etwas mit Louis Bremers Besuch zu tun? Wußte der Hai von der erfolglosen Rückkehr, von dem Versagen Bremers, das auf ihn, Henry Black, zurückfiel?
Buster trat einen Schritt in den Raum hinein und zeigte erneut nach oben, heftiger, ungeduldiger.
Henry Black schluckte den dicken Kloß in seiner Kehle hinunter und sagte: »Ist ja schon gut, ich komme.«
An Busters Seite stieg er die Treppe zum Reich des Hais hinauf, vorbei an den großen Spiegeln, die der Hai überall im Golden Crown hatte anbringen lassen.
Anfangs hatte Black in den Spiegeln nur eine Marotte gesehen. Inzwischen haßte er sie. Sie waren für ihn ein Sinnbild des Hais, der alles nach seinem Willen gestaltete. Auch das Golden Crown, das doch von Black großgemacht worden war.
Der Geschäftsmann hätte am liebsten sämtliche Spiegel in dem großen Haus zertrümmert. Sie erinnerten ihn zu sehr an die ständige Präsenz des unheimlichen Mannes.
Je höher die beiden Männer stiegen, desto schwächer wurde das Gefühl des Hasses in Henry Black. Die Furcht vor dem Bevorstehenden verdrängte alles andere.
Daß Black nicht wußte, was der Hai von ihm wollte, machte die Sache nur noch schlimmer. Die Ungewisse Gefahr war die bedrohlichste.
*
»Eli!«
Immer wieder ertönte Jacobs langgezogener Schrei, während er auf der Suche nach dem verschollenen Freund durch das Labyrinth des Lagerhauses lief.
Er erhielt keine Antwort. Er hörte nur das Prasseln und Knacken der Flammen, die über ihm das Dach verzehrten.
Schon wurde es zwischen den dicken Ziegelwänden unerträglich heiß. Rauchschwaden behinderten die Sicht und reizten Jacobs Lungen so sehr, daß der Auswanderer immer wieder von Hustenkrämpfen überfallen wurde.
Trotz des schwarzgrauen Rauches und trotz der verwirrenden Vielzahl von Zwischenwänden und Kistenstapeln hielt Jacob, so hoffte er jedenfalls, die Richtung ein. Er wollte zum hinteren Teil des Lagerhauses, wo nach Aussage des verletzten Sergeanten Wände und Zwischenböden eingestürzt waren.
»Eli!«
Der große Deutsche rief es zum wiederholten Mal und blieb abrupt stehen. Dies mußte der Ort sein, von dem der Sergeant gesprochen hatte.
Ein Chaos.
Fast auf der gesamten Breite des Lagerhauses waren Wände und Munitionskisten übereinandergefallen und türmten sich zu einer bis an die Decke reichenden Pyramide auf.
Falls Eli tatsächlich darunter begraben lag, konnte er dann noch leben?
Mußte er nicht von dem Gewicht erschlagen oder zerquetscht sein?
Oder erstickt?
»Eli!«
Wieder schrie Jacob das Namenskürzel seines Freundes, und er legte alle Kraft in diesen Schrei.
Die Antwort kam so überraschend, daß er es erst für eine Halluzination seiner überreizten Sinne hielt.
»Jake!« hörte er unverkennbar die rauhe Stimme des Harpuniers. »Bist du's wirklich, Jake?«
»Verdammt, ja!«
Der Auswanderer war so glücklich, den Freund endlich gefunden zu haben, daß ihm die Stimme versagen wollte.
Er rang um Fassung und fragte: »Eli, wo steckst du bloß?«
»Mitten in der Scheiße! Habe das Gefühl, das halbe Lagerhaus ist auf mich drauf gefallen. Kann mich weder bewegen noch etwas sehen. Tut mir leid, Jake, daß ich dir keine Wegbeschreibung geben kann.«
»Macht nichts, Eli. Ich glaube, ich weiß, wo du bist.«
Während der verschüttete Harpunier sprach, war der Auswanderer langsam nähergetreten. Er glaubte, den Ort lokalisiert zu haben, von dem die Stimme kam.
Tatsächlich aus dem größten Schutthaufen!
Aber er war froh, überhaupt soviel zu wissen. Froh, daß Elihu lebte!
Mit neuem Mut schwang Jacob die Axt, die er zugleich als Hacke und Schaufel einsetzte.
Immer wieder legte er das schwere Werkzeug weg und benutzte die bloßen Hände, um größere Trümmerteile freizulegen. Daß dabei seine Haut aufriß, daß Fingernägel brachen, beachtete er gar nicht.
Sorge bereitete ihm nur das Dach, das immer mehr nachgab. Schon krachten die ersten Stücke herunter, und Flammenzungen leckten nach dem Gebälk. Sobald ein brennendes Trümmerstücke eine Kiste mit Explosivstoff traf, war alles vorbei!
Wie ein Rasender schwang der unermüdliche Arbeiter die Axt, da erscholl ein Schrei: »Vorsicht, Jake, sonst hackst du mir die Hand ab!«
Sekunden später schob sich eine schmutzige, bei erfolglosen Befreiungsversuchen blutig gerissene Hand durch ein kleines Loch. Elihus Hand!
Abermals legte Jacob die Axt weg und setzte die Arbeit mit bloßen Händen fort. Er mußte jetzt sehr vorsichtig sein, damit nicht Trümmerstücke von oben nachrutschten und die Lücke wieder verschlossen.
Also zwang er sich zur Ruhe. Obwohl immer größere Brocken vom Dach ins Innere des Lagerhauses stürzten.
Bald konnte Elihu statt der Hand den ganzen Arm herausstrecken. Dann folgte endlich der vollbärtige Kopf mit dem dichten Haupthaar.
Daß Haar und Bart eigentlich rotbraun waren, konnte jetzt niemand erkennen. Alles war schmutzverklebt und damit von einer undefinierbaren Farbe, sehr dunkel, mit einem Hauch von Grau, was ein wenig an den dichter werdenden Rauch erinnerte.
Die ebenfalls schmutzverklebten Augen des Harpuniers blinzelten, während er den Kopf langsam drehte und sich umsah. Zunehmende Verwunderung zeichnete sich auf seinem Gesicht ab.
»Wo sind die anderen?« wollte er wissen.
»Welche anderen?« entgegnete Jacob.
»Na, deine Helfer, der Rettungstrupp.«
»Ich allein bin der Rettungstrupp. Da die Zisternen leer sind und es kein Wasser mehr für die Feuerspritzen gibt, haben sich alle anderen bereits zurückgezogen.«
Der Auswanderer warf einen besorgten Blick zur Decke hinauf. Das Dachgestühl stand jetzt in hellen Flammen.
»Wir sollten den anderen schleunigst folgen«, fuhr er fort. »Sonst kommen wir hier nicht mehr heraus.«
Er half dem Harpunier beim Verlassen seines Gefängnisses, was sich als überaus schwierig herausstellte. Elihus linkes Bein war zwischen den Trümmern eingeklemmt. Erst nach heftigem Zerren konnte der Seemann sich freimachen.
Jacob zog ihn aus den Trümmern. Elihu wollte sich aufrichten, knickte aber sofort wieder ein.
»Sieht so aus, als hätte ich mir das Bein verrenkt oder verstaucht«, brummte der Harpunier. »Du solltest ohne mich abhauen, Jake. Das Dach hält nicht mehr lange!«
Die letzte Feststellung war zweifellos berechtigt. Kometengleich fielen immer wieder brennende Trümmerstücke ins Lagerhaus. Noch waren es kleine Bruchstücke, aber der Einsturz der gesamten Dachkonstruktion war absehbar.
»Wir gehen hier nur zusammen heraus!« beharrte der Deutsche und wischte mit der Hand Schweiß und Schmutz von seinen Augen. »Das hier ist doch kein angemessenes Seemannsgrab.«
»Nein, wirklich nicht.«