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über nach, was nach zehn Jahren oder schon vorher mit deiner Schwester sein wird! Weißt du es?

So quälte und verhöhnte er sich mit solchen Fragen, und er tat es sogar mit einem gewissen Genuß. Übrigens waren all diese Fragen nicht neu, er war nicht überrascht von ihnen; sie waren alt und quälten ihn seit langem. Schon längst peinigten sie ihn und zerrissen ihm das Herz; schon längst war in ihm all dieser Gram gekeimt, er war gewachsen, grö-ßer und größer geworden und in letzter Zeit gereift, hatte sich verdichtet und die Form einer grauenvollen, wilden, phantastischen Frage angenommen, die ihm Herz und Ver-stand zerfleischte und unabweislich Antwort heischte. Da hatte ihn der Brief der Mutter plötzlich wie ein Donner-schlag getroffen. Er erkannte, daß es nicht darum ging, sich zu grämen, nur passiv zu leiden, indem er darüber nach-grübelte, daß diese Fragen unlösbar seien, sondern daß er unbedingt etwas tun mußte, sofort, so rasch wie möglich. Was immer es auch kosten mochte, er mußte sich wenigstens zu irgend etwas entschließen oder ...

»Oder auf das Leben ganz verzichten!« schrie er plötzlich wie ein Besessener. »Gehorsam mein Schicksal auf mich neh-men, so wie es ist, ein für allemal, und alles in mir erstik-ken, auf jegliches Recht, zu handeln, zu leben und zu lieben, verzichten!«

»Verstehen Sie, lieber Herr, verstehen Sie, was das bedeu-tet, wenn man sich nirgends mehr hinwenden kann?« Diese Frage, die Marmeladow gestern gestellt hatte, fiel ihm plötz-lich ein. »Jeder Mensch muß sich doch wenigstens irgendwo-hin wenden können ...«

Plötzlich erschauerte er – ein Gedanke, den er ebenfalls gestern schon gedacht hatte, war ihm wieder in den Sinn ge-kommen. Aber er erschauerte nicht deshalb, weil ihm dieser Gedanke gekommen war. Er hatte ja gewußt, er hatte ja im voraus gefühlt, daß dieser Gedanke ihm unbedingt kommen werde, und hatte schon darauf gewartet; und dieser Gedanke war keineswegs von gestern. Doch der Unterschied lag darin, daß das alles vor einem Monat, ja sogar gestern noch ein Traum gewesen war, jetzt jedoch ... jetzt jedoch war es plötz-

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lich kein Traum mehr, sondern stand in einer neuen, bedroh-lichen, völlig unbekannten Form vor ihm, und dessen wurde er sich bewußt. Sein Kopf dröhnte ihm; ihm wurde dunkel vor Augen.

Hastig blickte er sich um; er suchte etwas. Er wollte sich setzen und suchte eine Bank – er befand sich gerade auf dem K.-Boulevard. Vor sich sah er eine Bank, an die hundert Schritt entfernt. Er ging, so schnell er konnte, doch unterwegs hatte er ein kleines Erlebnis, das für einige Minuten seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.

Während er die Bank suchte, bemerkte er etwa zwanzig Schritt vor sich eine Frau, doch schenkte er ihr anfangs eben-sowenig Beachtung wie allen anderen Gegenständen, die bis-her an seinem Blick vorbeigeglitten waren. Es war ihm schon oft zugestoßen, daß er zum Beispiel nach Hause ging und sich des Weges überhaupt nicht bewußt wurde, und er war schon daran gewöhnt, so zu gehen. Doch diese Frau vor ihm hatte etwas so Seltsames und schon auf den ersten Blick Auf-fallendes an sich, daß seine Aufmerksamkeit mehr und mehr von ihr gefesselt wurde – anfangs unwillkürlich und gleich-sam verärgert, dann aber immer stärker. Plötzlich hatte er den Wunsch dahinterzukommen, was denn eigentlich an die-ser Frau so sonderbar sei. Erstens ging sie, die offenbar noch ein sehr junges Mädchen war, in dieser Sonnenglut barhaupt und ohne Schirm und ohne Handschuhe und schlenkerte irgendwie komisch mit den Armen. Sie trug ein Kleid aus leichter Seide; aber auch das hatte sie auf eine merkwürdige Art angezogen: es war kaum zugeknöpft und hinten an der Taille, dort wo der Rock angesetzt war, zerrissen; ein ganzer Fetzen hing herunter. Ein kleines Tuch lag ihr um den bloßen Hals, saß aber schief und war zur Seite gerutscht. Zu alledem ging das Mädchen sehr unsicher; es strauchelte und taumelte nach allen Seiten. Dieser Anblick erweckte schließlich die ganze Aufmerksamkeit Raskolnikows. Dicht bei der Bank holte er das Mädchen ein, sie aber ließ sich, sobald sie zu der Bank gekommen war, auf das eine Ende fallen, warf den Kopf auf die Lehne und schloß die Augen, offenbar aufs äußerste erschöpft. Als er sie genauer betrachtete, erriet er

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sogleich, daß sie völlig betrunken war. Seltsam und grausam war dieser Anblick. Er dachte sogar schon, ob er sich nicht irre. Er sah ein blutjunges Gesichtchen vor sich; das Mädchen mochte sechzehn, vielleicht sogar erst fünfzehn Jahre zählen – es war ein kleines, blondes Gesichtchen, aber ganz erhitzt und gleichsam aufgedunsen. Das Mädchen schien kaum noch bei Bewußtsein; das eine Bein hatte sie über das andere ge-schlagen, wobei sie weit mehr davon zeigte, als schicklich war, und schien sich dem Anschein nach kaum darüber im klaren zu sein, daß sie sich auf der Straße befand.

Raskolnikow setzte sich nicht, wollte aber auch nicht weg-gehen, sondern stand verblüfft vor ihr. Dieser Boulevard ist auch sonst nur wenig belebt, jetzt aber, in der zweiten Nach-mittagsstunde und bei dieser Hitze, war fast niemand hier. Allerdings stand abseits, etwa fünfzehn Schritt entfernt, am Rande der Straße ein Herr, der, wie es schien, ebenfalls große Lust hatte, aus irgendwelchen Gründen zu dem Mäd-chen hinzugehen. Offenbar hatte auch er sie von weitem ge-sehen und war ihr nachgegangen, doch Raskolnikow hatte ihn gestört. Der Fremde warf ihm böse Blicke zu, gab sich aber im übrigen Mühe, daß der andere diese Blicke nicht be-merke, und wartete ungeduldig darauf, daß der ärgerliche, zerlumpte Störenfried wegginge und die Reihe an ihn selber käme.

Die Sache war klar. Dieser Herr war ungefähr dreißig Jahre alt, kräftig und wohlgenährt, hatte ein Gesicht wie Milch und Blut, rosafarbene Lippen und ein Schnurrbärtchen und war sehr stutzerhaft gekleidet. Raskolnikow wurde wütend; plötzlich packte ihn die Lust, diesen fetten Gecken irgendwie zu beleidigen. Für einen Augenblick ließ er das Mädchen allein und ging zu dem Herrn hin.

»He, Sie Swidrigailow! Was wollen Sie hier?« rief er, wäh-rend er die Fäuste ballte und mit vor Wut geifernden Lip-pen lachte.

»Was soll das?« fragte der Herr streng und runzelte in hochmütiger Verwunderung die Stirn.

»Scheren Sie sich weg – das soll es!«

»Wie kannst du dich unterstehen, Kanaille! ...«

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Er holte mit seinem Stöckchen aus. Mit geballten Fäusten stürzte Raskolnikow auf ihn zu, ohne auch nur daran zu denken, daß dieser kraftstrotzende Mann sogar mit zwei Leuten wie ihm fertigwerden konnte. Doch im gleichen Augenblick packte ihn jemand fest von hinten – zwischen die beiden trat ein Schutzmann.

»Lassen Sie das, meine Herren, prügeln Sie sich doch nicht auf offener Straße. – Was wollen Sie? Wer sind Sie?« wandte er sich dann streng an Raskolnikow und musterte dessen Lumpen.

Raskolnikow betrachtete ihn aufmerksam. Der Mann hatte ein wackeres Soldatengesicht mit grauem Schnurr- und Bak-kenbart und sah vernünftig aus.

»Sie brauche ich gerade«, rief er, während er den Schutz-mann am Arm faßte. »Ich bin ehemaliger Student, Raskolni-kow mit Namen ... das können auch Sie hören«, wandte er sich an den fremden Herrn; »aber Sie, kommen Sie; ich will Ihnen etwas zeigen ...«