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Swidrigailow stand noch etwa drei Minuten am Fenster; endlich wandte er sich langsam um, blickte um sich und strich sich leise mit der flachen Hand über die Stirn. Ein sonder-bares Lächeln verzog sein Gesicht, ein klägliches, trauriges, mattes Lächeln, ein Lächeln der Verzweiflung. Das Blut, das bereits trocknete, hatte ihm die Hand beschmiert; böse starrte er es an; dann machte er ein Handtuch feucht und wusch sich die Schläfe. Der Revolver, den Dunja weggeworfen hatte und der zur Tür geflogen war, fiel ihm plötzlich in die Augen. Swidrigailow hob ihn auf und betrachtete ihn. Es war ein kleiner dreischüssiger Taschenrevolver, ein altes Fabrikat; zwei Kugeln und eine ganze Patrone steckten noch darin.

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Einmal konnte man also damit noch schießen. Swidrigailow dachte nach, steckte den Revolver in die Tasche, nahm seinen Hut und verließ das Haus.

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Den ganzen Abend bis zehn Uhr verbrachte er in verschie-denen Kneipen und Spelunken, indem er immer ein neues Lokal aufsuchte. Irgendwo hatte er auch Katja getroffen; sie sang inzwischen ein neues Lied, in dem es hieß, daß

... ein Unhold und Tyrann Seine Katja küssen wollt ...

Swidrigailow bestellte für Katja etwas zu trinken, und auch den Leierkastenmann, die Sänger, die Kellner und zwei schäbige kleine Schreiber traktierte er mit Getränken. Diese beiden Schreiber hatte er eigentlich nur deshalb eingeladen, weil sie schiefe Nasen hatten: die Nase des einen stand nach rechts, die des anderen nach links. Das hatte Swidrigailow sehr gewundert. Sie schleppten ihn zuletzt in ein Gartenlokal, wo er auch noch den Eintritt für sie bezahlte. In dem be-sagten Garten standen eine dünne dreijährige Tanne und drei Sträucher. Das Ganze nannte sich großartig »Vauxhall«, war aber eigentlich nur eine primitive Schenke, wo man jedoch auch Tee bekommen konnte; es standen einige grüne Tischchen und Stühle herum. Ein miserabler Sängerchor und ein be-soffener Deutscher aus München, zurechtgemacht wie ein Bajazzo, mit einer roten Nase, aber aus irgendwelchen Grün-den außerordentlich melancholisch, belustigten das Publikum. Die Schreiber gerieten in Streit mit anderen Schreibern, eine Rauferei lag in der Luft. Swidrigailow wurde zum Schieds-richter gewählt. Er mühte sich über eine Viertelstunde ab, den Streit zu schlichten, aber die Kerle schrien so durchein-ander, daß es unmöglich war, irgend etwas zu verstehen. Wahrscheinlich war die Sache die, daß einer von ihnen etwas gestohlen und auch schon irgendeinem Juden, der zufällig dazugekommen war, verkauft hatte, daß er jedoch nach dem

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Verkauf nicht gewillt gewesen war, mit seinen Kameraden zu teilen. Schließlich stellte sich heraus, daß der verkaufte Gegenstand ein Teelöffel war, der dem Lokal gehörte. Zu-mindest wurde er im »Vauxhall« vermißt, und die Sache nahm allmählich eine beunruhigende Wendung. Swidrigailow zahlte für den Löffel, stand auf und verließ den Garten. Es war gegen zehn Uhr. Er selbst hatte während der ganzen Zeit nicht einen einzigen Tropfen Wein getrunken und sich im »Vauxhall« Tee geben lassen, aber auch das mehr oder weniger, um nur überhaupt etwas zu bestellen. Der Abend war schwül und regnerisch. Gegen zehn Uhr zogen von allen Seiten drohende Gewitterwolken auf; Donner grollte, und der Regen brach los wie ein Wasserfall. Es regnete nicht in Tropfen, sondern das Wasser peitschte in ganzen Strömen auf die Erde. Unaufhörlich blitzte es, und man konnte zu-weilen bis zu fünf Blitzen auf einmal zählen. Bis auf die Haut durchnäßt, kam Swidrigailow nach Hause. Er schloß sich ein, öffnete das Schreibpult, holte sein Geld heraus und zerriß zwei oder drei Papiere. Dann steckte er das Geld in die Tasche und wollte sich umkleiden, aber als er aus dem Fenster geschaut und dem Donner und dem Rauschen des Regens ge-lauscht hatte, machte er eine geringschätzige Handbewegung und ging weg, ohne die Wohnung abzuschließen. Er begab sich zu Sonja.

Sie war zu Hause, aber nicht allein; um sie geschart saßen die vier kleinen Kinder Kapernaumows. Sofja Semjonowna bewirtete sie mit Tee. Schweigend und ehrerbietig begrüßte sie Swidrigailow, betrachtete erstaunt seine durchnäßten Klei-der, sagte jedoch kein Wort. Die Kinder liefen in unbeschreib-lichem Entsetzen sofort weg.

Swidrigailow setzte sich an den Tisch und bat Sonja, neben ihm Platz zu nehmen. Schüchtern machte sie sich bereit, ihm zuzuhören.

»Ich fahre vielleicht nach Amerika, Sofja Semjonowna«, begann Swidrigailow; »und da wir einander wahrscheinlich zum letztenmal sehen, bin ich gekommen, um noch einiges mit Ihnen zu regeln. Nun, haben Sie heute jene Dame gesprochen? Ich weiß schon, was sie Ihnen gesagt hat; Sie brauchen es mir

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nicht wiederzuerzählen.« Sonja fuhr auf und wurde rot. »Man weiß ja, wie diese Art Leute denken. Was aber Ihre beiden Schwestern und Ihren kleinen Bruder angeht, so sind sie wirklich gut untergebracht, und das Geld, das jedem ge-hören soll, habe ich bei der zuständigen Stelle gegen eine ent-sprechende Quittung in sichere Hände einbezahlt. Nehmen Sie diese Quittungen an sich – für alle Fälle. Hier, nehmen Sie sie! Das wäre also jetzt erledigt. Und da sind noch drei fünfprozentige Staatspapiere, insgesamt für dreitausend Ru-bel. Die sollen Sie nehmen, sie gehören Ihnen; ich möchte, daß das unter uns bleibt; niemand soll etwas davon erfahren, ganz gleich, was Ihnen in den nächsten Tagen über mich zu Ohren kommt. Sie werden das Geld noch brauchen können, Sofja Semjonowna; denn so weiterzuleben wie bisher ist häß-lich, und Sie haben es damit nicht mehr nötig.«

»Ich habe schon solche Wohltaten von Ihnen empfangen, ich und die Waisen und die Verstorbene«, erwiderte Sonja hastig, »daß Sie mir, wenn ich Ihnen bisher nur so wenig gedankt habe ... nicht böse sein dürfen ...«

»Ach, genug, hören Sie auf damit!«

»Und dieses Geld, Arkadij Iwanowitsch, brauche ich jetzt gar nicht, so dankbar ich Ihnen bin. Allein werde ich mich immer durchbringen können; halten Sie das nicht für Un-dankbarkeit, aber wenn Sie so wohltätig sind, geben Sie doch dieses Geld ...«

»Ich möchte es Ihnen geben, Sofja Semjonowna, und bitte, verlieren wir nicht viel Worte darüber; denn sogar ich habe keine Zeit. Sie werden es brauchen können. Rodion Roma-nytsch stehen zwei Wege offen: entweder eine Kugel vor den Kopf oder die Wladimirka*.« Sonja blickte ihn verwirrt an und begann zu zittern. »Seien Sie unbesorgt; ich weiß alles, von ihm selbst weiß ich es, und ich bin kein Schwätzer; ich werde es niemandem erzählen. Sie haben ihn damals gut be-raten, als Sie sagten, er solle sich selbst stellen. Das wäre für ihn sehr viel besser. Nun, und wenn er die Wladimirka wählt,

* Wladimirka: die über Wladimir führende Straße, auf der die Zwangsarbeiter nach Sibirien marschierten (Anmerkung des Über-setzers).

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dann folgen Sie ihm doch, nicht wahr? Nicht wahr? In die-sem Falle aber brauchen Sie das Geld. Für ihn werden Sie es brauchen, verstehen Sie? Gebe ich es Ihnen, so ist das doch das gleiche, wie wenn ich es ihm gäbe. Außerdem haben Sie ja Amalja Iwanowna versprochen, Katerina Iwanownas Schul-den zu bezahlen; das habe ich gehört. Wie können Sie nur so unbedacht derartige Verbindlichkeiten und Verpflichtungen auf sich nehmen, Sofja Semjonowna? Katerina Iwanowna war doch diesem Weib das Geld schuldig, nicht Sie, also könn-ten Sie auf die Deutsche pfeifen. So kommt man im Leben nicht vorwärts ... Also, wenn jemand Sie, sagen wir morgen oder übermorgen, nach mir fragen oder sich nach mir erkun-digen sollte – und das wird ganz gewiß geschehen –, dann erwähnen Sie bitte nichts davon, daß ich jetzt bei Ihnen war; vor allem zeigen Sie auf keinen Fall das Geld her und sagen Sie niemandem, daß ich es Ihnen gegeben habe. Und nun auf Wiedersehen!« Er stand auf. »Meine Empfehlung an Rodion Romanytsch. Übrigens, verwahren Sie das Geld vorläufig vielleicht bei Herrn Rasumichin. Kennen Sie Herrn Rasu-michin? Ach ja, natürlich kennen Sie ihn. Das ist gar kein übler Bursche. Bringen Sie es ihm morgen oder ... wenn es an der Zeit ist. Bis dahin aber verstecken Sie es möglichst gut.«